AfD Demokratie
Neutralität als Kampfbegriff der AfD
Eine Kapitalismuskritikerin soll in Bayern nicht Lehrerin werden, ein Grundschüler in Sachsen nach Anti-AfD-Gekritzel von der Schule fliegen: Wie absurd will es die Demokratie denn noch?

Foto: IMAGO / HMB-Media
Es war eine recht halbherzige Entschuldigung. Am Montag vor einer Woche saß die Rektorin der Jan-Amos-Comenius-Grundschule in Chemnitz, Yevhenyia Goldhahn, noch einmal mit der Mutter von Ahmet (Name geändert) zusammen. Jenes zehnjährigen Schülers mit Migrationshintergrund, der in seinem Kritzelheft Parolen wie „FCK AfD“ oder „AFD ist Scheise“ notiert hatte. Dazu ein durchgestrichenes Hakenkreuz.
Ahmet hatte wegen der Kritzeleien Ende März von der Schulleiterin einen schriftlichen Verweis bekommen. Er habe „im Unterricht staatsfeindliche Symbolik (Hakenkreuze) auf seinem Arbeitsblatt“ gezeichnet, hieß es zur Begründung der Ordnungsmaßnahme. Im Zusammenhang mit diesem Bescheid sei ein „formeller Fehler“ passiert, gab Goldhahn zu. Weitere Worte des Bedauerns fand sie nicht.
Formell wurden alle Ordnungsmaßnahmen zurückgenommen. Eigentlich sollte der Junge drei Wochen lang in eine Parallelklasse strafversetzt werden. Man hatte ihm sogar angedroht, ihn bei einem weiteren Vergehen von der Schule zu werfen. So wurde das Mobbing, das Ahmet schon länger an der Grundschule verspürte, auf die Spitze getrieben.
AfD missbraucht Neutralitätsgebot
Eine Posse? Alles nun erledigt? Mitnichten. Und dies nicht wegen der Abläufe im konkreten Fall in Chemnitz. Immer häufiger ist es so, dass Schüler:innen oder auch Lehrkräfte, die sich an Schulen klar gegen die AfD positionieren, in die Bredouille kommen. Als Schlagwort wirkt – und wird von der AfD gezielt missbraucht – das sogenannte Neutralitätsgebot, laut dem Lehrer:innen im Unterricht keine Politik machen, sondern sich parteipolitisch neutral verhalten sollen. Aber was heißt das konkret?
1976 wurde dazu der Beutelsbacher Konsens erarbeitet, in dem unter anderem ein sogenanntes Überrumpelungsverbot verhängt wird: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern.“
Der Irrglaube mit der Neutralität von Lehrkräften
Die mit diesen Regeln einhergehenden Missverständnisse lassen sich schwer ausräumen. Eine der Fehlinterpretationen: Lehrkräfte, auch angehende Lehrkräfte, glauben manchmal, dass sie ihre eigene politische Position gegenüber den Lernenden verbergen müssten.
Über den „Mythos Neutralität in Schule und Unterricht“ schrieb die Bundeszentrale für politische Bildung 2019. Und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erklärte 2024, Lehrkräfte müssten nicht politisch neutral sein, „doch dieser Irrglaube hält sich hartnäckig“. Zwar sei es gerade bei schwierigen Themen wichtig, alle Perspektiven zu beleuchten. Aber eben auch, eine klare Haltung gegen Antisemitismus und Rassismus, Gewaltverherrlichung und menschenverachtende Äußerungen zu zeigen. GEW-Chefin Maike Finnern meint: „Die AfD ist eine Partei mit verfassungsfeindlichen Tendenzen. Das dürfen und sollen Lehrerinnen und Lehrer auch im Klassenraum so sagen.“
Ganz ähnlich argumentierte der Jurist Hendrik Cremer 2019 in der Analyse „Das Neutralitätsgebot in der Bildung“ für das Deutsche Institut für Menschenrechte. Er schreibt: Lehrer:innen wie auch Akteure im Bereich der außerschulischen Bildung müssten „rassistische und rechtsextreme Positionen von politischen Parteien kritisch thematisieren“. Gerade die deutsche Geschichte habe gezeigt, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung eines Staates „zerstört werden kann, wenn rassistische Grundhaltungen nicht rechtzeitig auf energischen Widerstand stoßen und sich so verbreiten und durchsetzen können“.
Entschuldigung auf Druck von oben
Zurück nach Chemnitz, AfD-Hochburg wie fast ganz Ostdeutschland: Das Problem dort – und nicht nur dort – ist, dass diese Einsicht oft fehlt. Inzwischen ist klar, dass die Entschuldigung der Schulleiterin nur auf Druck von oben erfolgt ist. Als der SPD-Fraktionsvorsitzende im sächsischen Landtag, Henning Homann, vor ein paar Tagen zu dem Fall bei Kultusminister Conrad Clemens (CDU) nachfragte, erhielt er die Auskunft: „Der Schulleiterin wird empfohlen, sich bei der Mutter des Jungen zu entschuldigen.“ Zudem werde das Thema „Ordnungsmaßnahmen und Verhältnismäßigkeit“ bei einer der nächsten Schulleiterdienstberatungen aufgegriffen.
Die Schulbehörden aber drehten gegenüber der Mutter den Spieß um. Sie und ihre Unterstützerinnen seien verantwortlich, dass die Schule einem „Shitstorm“ ausgesetzt sei, erklärte ein Vertreter des Landesschulamts der Mutter. Lehrer:innen seien deshalb quasi „in Schockstarre“ verfallen. So funktioniert Täter-Opfer-Umkehr.
Dabei hatte die Öffentlichkeit überhaupt erst dazu geführt, dass die Schulbehörden einen Rückzieher machten und Sachsens Kultusminister Conrad Clemens (CDU) zugab, dem Jungen sei unrecht getan worden.
Einen anderen Fall an der Grundschule, der sich nur kurz zuvor ereignet hatte, kehren die Schulbehörden derweil unter den Tisch. Dabei waren wirklich Hakenkreuze im Schulgebäude gezeichnet worden, solche, die nicht durchgestrichen waren. Ein solcher Fall sei „uns nicht bekannt“, erklärt das sächsische Landesschulamt auf Anfrage. Vermutlich, weil die Schule ihn erst gar nicht nach oben gemeldet hat.
Dienstaufsichtsbeschwerde der AfD gegen kritischen Lehrer
Zur Klarstellung: Das sind weder Einzelfälle noch ein bloß ostdeutsches Problem. Ein Oberstufenleiter an einem Gymnasium im bayerischen Schwangau, Georg Grimm, muss gerade kämpfen, weil die lokale AfD Dienstaufsichtsbeschwerde gegen ihn eingereicht hat und er wiederholt in anonymen Briefen bedroht wird. Sein „Vergehen“: Er hat bei seinen Schüler:innen für die Teilnahme an einer Demonstration gegen Rechtsextremismus geworben. Zeit Online zitierte Grimm mit den Worten: „Letztendlich möchte ich meine Schüler dazu erziehen, dass sie keine Nazis werden.“
Zum Glück betont das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus in diesem Fall, zum Erziehungsauftrag der Lehrkräfte gehöre es, die Bereitschaft ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern, sich für den freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat einzusetzen und ihn nach innen und außen zu verteidigen. Ein Auftrag zur freiwilligen Teilnahme an einer Demonstration gegen Rechtsextremismus sei deshalb vom Erziehungsauftrag gedeckt.
Fragwürdiges Demokratieverständnis in Bayern
Eine andere mutige Demokratin hat mit demselben Ministerium weniger Glück, die bayerische Klimaaktivistin Lisa Poettinger. Sie wurde zum Lehramtsreferendariat nicht zugelassen, die GEW spricht von einem „politisch motivierten Berufsverbot“. Begründet wurde die Maßnahme unter anderem damit, dass Poettinger die Internationale Automobilausstellung in Frankfurt am Main als „Symbol für Profitmaximierung auf Kosten von Mensch, Umwelt und Klima“ bezeichnet hatte und für den „Klassenkampf“ werbe.
Der Begriff „Profitmaximierung“ stamme aus dem Kommunismus, schrieb das Kultusministerium im Bescheid „Nichtzulassung zum Vorbereitungsdienst“ – und berief sich dabei auf die Expertise des Verfassungsschutzes. Demnach stehe auch die Aufforderung zum Klassenkampf „synonym für die Forderung nach Abschaffung des Kapitalismus, womit […] die Abschaffung der Demokratie verbunden ist.“
Poettinger entgegnet: „Das ist ein sehr beschränktes Demokratieverständnis, das auch der Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit nicht gerecht wird. Letztlich macht sich der Staat zum Gehilfen kapitalistischer Ausbeuter. Ich finde eher, dass der Kapitalismus Demokratie untergräbt und deshalb auch bekämpft werden muss.“
Ihr Staatsexamen durfte Poettinger Ende März schreiben, das Ergebnis erwartet sie erst in ein paar Monaten. Erst recht unklar ist, wie der Rechtsstreit in ihrer Sache ausgeht – sie klagt beim Bayerischen Verwaltungsgericht. Schon jetzt gibt es eine bemerkenswerte Parallele zwischen dem Fall Poettinger und dem des sächsischen Grundschülers: Zwei Menschen, die sich – jeder auf seine eigene Weise – für die Demokratie einsetzen, werden mit Etiketten wie „staatsfeindlich“ versehen. Es sind Fehler, die gerade in diesen Zeiten des Rechtsrucks nicht passieren dürften. Die Verantwortlichen sollten nachsitzen.
Ob im Parlament, auf der Straße oder im Internet: Rechtsextremismus ist gefährlich und bedroht unsere Demokratie. Warum die AfD keine demokratische Partei ist, obwohl sie demokratisch gewählt wurde, kannst Du hier nachlesen. Und doch will die CDU, alles voran Jens Spahn, der AfD wichtige Leitungspositionen im Bundestag überlassen. Bekommt die rechtsextreme Partei den Vorsitz von Ausschüssen, könnte sie wesentliche Abläufe im Parlament sabotieren und die Demokratie so von innen aushöhlen. Schon über 400.000 Menschen haben den Campact-Appell unterzeichnet und fordern, den Verfassungsfeinden keine Macht zu geben. Schließe Dich jetzt an.