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Solidarität ist Selbstverteidigung

Trumps Grenzpolitik verdeutlicht gerade auch deutschen Reisenden, wie privilegiert sie bislang waren – und zeigt, wie sehr unsere Freiheiten voneinander abhängig sind.

Ein mit Bewegungsunschärfe versehenes Bild fängt mehrere Reisende ein, die ihr Gepäck durch ein helles, modernes Flughafenterminal schleppen.
Foto: IMAGO / Addictive Stock

Weiße Menschen aus Europa bereisen gerne die Welt, ohne über die Auswirkungen von Grenzpolitiken nachzudenken. Dabei sollte klar sein, dass jede rassistische Grenzpolitik auch ihre Privilegien verletzen könnte. Weiße Globetrotter aus wirtschaftlich starken Ländern fühlen sich bei rassistischen Migrationsdebatten nicht angesprochen, da diese Debatten augenscheinlich auf Menschen abzielen, die außerhalb ihrer Sphäre existieren. Doch schnell wird klar, was damit gemeint ist, dass unsere Freiheiten voneinander abhängen. 

Wir erleben einen Rückschritt – faschistische Ideen sind salonfähig, soziale Gerechtigkeit kein politisches Ziel mehr. Migrantische und trans Personen werden zu Sündenböcken erklärt; Reiche und Superreiche werden geschont. In diesen furchterregenden Zeiten wird der Feminismus wichtiger denn je. Vor allem aber ist ein intersektionaler Ansatz wichtig, weil er verschiedene Ausbeutungspraktiken in den Fokus nimmt. Außerdem ist intersektionaler Feminismus eine gesamtgesellschaftliche und globale Dienstleistung: Er will, dass alle Menschen frei von Gewalt und Unterdrückung leben können. Es ist an der Zeit, ihn zu schätzen – die Abschiebe- und Grenzpolitik der USA führt das nochmal deutlich vor Augen.

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Einer der mächtigsten Reisepässe der Welt

Der deutsche Reisepass ist einer der mächtigsten der Welt, damit kann man in 189 Länder der Welt ohne Visum einreisen – die Grenzen sind offen für jene, die sich das Reisen leisten können. Selbst wenn ein Visum nötig ist, ist es mit einem deutschen Pass meist sehr unkompliziert zu bekommen. Man beantragt, man bekommt.

Dies hat sich seit der Amtseinführung des US-Präsidenten Donald Trump geändert, zumindest in der Praxis. Deutsche werden an US-Grenzen nicht nur abgewiesen, sondern auch inhaftiert. Bei einem Grenzübertritt inhaftiert zu werden – aus dem einfachen Grund, Deutsche zu sein, – schockiert viele Deutsche, dabei war genau diese Grenzpolitik für sehr viele Menschen der Welt bereits Alltag. Und zwar nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Karma? Wenn man an so was glaubt.

Nur Solidarität schützt

Unabhängig von spirituellen Überzeugungen liefert die Menschheitsgeschichte genug Belege dafür, dass in Unrechtsregimen niemand sicher ist. Für absolute Freiheit und Gleichheit müssen alle Menschen frei und gleich sein, nicht nur manche. Diese einfache Wahrheit ignorieren viele, sobald sie Macht ausüben oder zumindest von der Ungleichheit profitieren können. Und selbst wenn sie nur wegschauen, ist das eine klare Haltung. Wegzuschauen, während andere Ungerechtigkeiten ausgesetzt werden, heißt, sich an die Seite des Täters zu schlagen. Schweigen mag kurzfristig schützen, aber langfristig hilft nur Solidarität.

Ich bekam den deutschen Pass erst in meinem 36. Lebensjahr. Bis dahin hatte ich einen türkischen Reisepass, mit dem ich laut aktuellem Stand in 114 Länder ohne Visum einreisen dürfte. So schlimm klingt das nicht, oder? Man muss ja nicht immer nach Italien, Spanien oder in die USA reisen, wenn man Urlaub machen will. Man kann genauso gut nach Kasachstan oder Albanien. Wieso nicht? Ich hatte in Deutschland sehr viele Menschen kennengelernt, für die das Reisen eine unfassbar große Bedeutung hatte. Alles, was sie taten, drehte sich um Urlaubspläne: Wo gehe ich als Nächstes hin, wie lange bleibe ich, wie viel Geld brauche ich dafür? Wie oft und wie lange muss ich für diese Summe arbeiten, was kann ich mir kaufen und was lieber nicht, um diese Summe so schnell wie möglich zusammenzubekommen? Reisen definierte sie, es war ihre Identität, sie waren „Suchende“, ja „Globetrotter“. Das bereicherte sie. Alice Hasters sagte mir: „Wenn heute weiße Menschen durch die Welt reisen, neuen Kulturen begegnen und sich diese aneignen, müssen sie verstehen, dass sie auf einer kolonialen Geschichte aufbauen.“

Von Privilegien und Willkür

Politische Schlüsse zu ziehen fällt schwer, wenn man so privilegiert ist, dass man sich nicht in andere hineinversetzen muss. Die Realität wird irrelevant, man muss sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Eigene Privilegien scheinen neutral, die Diskriminierung anderer als etwas, das nichts mit ihnen zu tun hat. Oder zumindest eine gerechte Sache zu sein scheint, die mit den Betroffenen zu tun haben muss. Dabei ist die Willkür offensichtlich, genauso wie die Bedeutung dessen, dass unsere Freiheiten voneinander abhängen: Zwei junge weiße Frauen aus Rostock werden an der US-Grenze inhaftiert und ausgewiesen. Ungefähr zeitgleich erleben wir, dass migrantische Menschen ohne juristische Verfahren als Kriminelle abgestempelt, massenhaft aus den USA ausgewiesen und inhaftiert werden. Ein Gericht entscheidet, dass „fälschlich abgeschobene“ zurück in die USA gebracht werden sollen, die Politik sagt nein, es wird nicht vollstreckt, die Gerichte verlieren ihr Gewicht, ihre Bedeutung. Der US-Präsident fordert den salvadorianischen Präsidenten Bukele auf, fünf weitere Gefängnisse zu bauen, um unerwünschte US-Bürger*innen abzuschieben. Der britische Schriftsteller Musa Okwonga schreibt auf Instagram dazu: „There are no ‚mistaken deportations‘. (…) This is their justice, their progress, their truth.“ (auf deutsch: „Es gibt keine ‚irrtümlichen Abschiebungen‘. (…) Das ist ihre Gerechtigkeit, ihr Fortschritt, ihre Wahrheit.“

Eine misslungene Reise ist nicht vergleichbar mit unrechtmäßiger Inhaftierung und Folter. Was wir hier akzeptieren müssen, ist: Für mich ist es nicht möglich, ein Leben mit Würde zu führen, wenn die Würde anderer täglich mit Füßen getreten wird. Wenn eine geflüchtete, alleinerziehende, illegalisierte Latina Mutter in den USA nicht frei ist, ist kein Mensch frei. Sich für andere einzusetzen, ist Selbstverteidigung. Es ist an der Zeit, dass das zur täglichen Praxis wird.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erschien am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Gastkolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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