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Wut als Reaktion auf Ungerechtigkeit ist eine durch und durch menschliche Erfahrung. Dabei reagieren Menschen nicht nur auf Ungerechtigkeiten, die sie selbst erleben, mit Wut – sondern auch, wenn sie sehen, dass andere Ungerechtigkeiten erleiden müssen. Das ist der Grund, warum so viele Menschen in Los Angeles und anderswo in den USA gegen die Remigrationspolitik ihres Staates demonstrieren. Und das, obwohl sie dabei riskieren, Tränengas ausgesetzt oder mit Gummigeschossen verletzt zu werden. Diese Verletzungen können lebenslange Folgen wie Blindheit haben, wenn dabei das Auge getroffen wird.

Weibliche Wut wird stigmatisiert

Dabei ist Wut ein stigmatisiertes Gefühl; eines, das häufig mit Zerstörung und Gewalt assoziiert wird. Das tut dem Gefühl und seinem Potenzial Unrecht. Wut kann nämlich sehr produktiv und konstruktiv eingesetzt werden. Gewalt ist keine logische Schlussfolgerung von Wut.

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Allerdings reagieren Menschen nicht auf jede Wut mit Ablehnung. Weiße und cis männliche Wut wird durchaus akzeptiert und als Stärke wahrgenommen, während weibliche oder nicht-weiße Wut abgelehnt und stigmatisiert wird. Das erlebten wir zuletzt in Bezug auf den Genozid in Gaza.

Greta, die wütende Aktivistin

Am 1. Juni machte sich das Segelschiff „Madleen“ von Sizilien aus auf den Weg nach Osten. Laut eigener Aussage soll das Schiff des Bündnisses „Freedom Flotilla Coalition“ (FFC) Aufmerksamkeit für die Notlage der Menschen im Gazastreifen schaffen und dringend benötigte Hilfsgüter wie Babynahrung und Medikamente nach Gaza bringen. Die israelische Armee fing das Schiff vor der Küste ab (wie auch auf dem „Madleen Tracker“ zu sehen ist) und verhaftete die Besatzung.

Vier der insgesamt 12 Menschen auf der „Madleen“ wurden aus Israel abgeschoben, acht davon befinden sich noch in Haft, unter anderem die deutsche Staatsbürgerin Yasemin Acar. Eine der vier Abgeschobenen ist die schwedische Aktivistin Greta Thunberg. Auch Baptiste Andre und Omar Faiad aus Frankreich sowie Sergio Turibio aus Spanien wurden ausgewiesen.

Stunden vor ihrer Festnahme veröffentlichten die Aktivist*innen simultan ein eigens aufgezeichnetes Video, in dem sie ungefähr sagten: Wenn ihr dies seht, wurden wir in internationalen Gewässern von Israel oder seinen Verbündeten entführt. Auf den Ausdruck „Entführung“ reagierte der US-Präsident Donald Trump – zwischen ein bisschen Faschismus und ein bisschen Golfspielen – mit Hohn: Israel habe Wichtigeres zu tun, als Greta Thunberg zu entführen. Außerdem brauche sie Kurse zur Aggressionsbewältigung, „anger management class“ auf Englisch, weil sie angeblich ein Wut-Problem habe.

Die Welt braucht mehr wütende Frauen

Greta – ich nehme es mir raus, sie mit Vornamen anzusprechen – reagierte äußerst charismatisch und erinnerte daran, dass die Welt mehr wütende junge Frauen braucht. Das stimmt. Nicht nur seitens junger Frauen, sondern insgesamt braucht die Welt mehr Wut auf Ungerechtigkeit. Die Nachrichtenlage und die Social-Media-Timelines fühlen sich an wie ein einziger Daueralbtraum: Menschenrechtsverletzungen, Genozid, Krieg, Vertreibung, unrechtmäßige Abschiebungen, Entführungen, Korruption, Massaker an Mensch und Tier. Wenn sich etwas bewegen und verändern soll, brauchen wir dringend mehr kollektive und konstruktive Wut. Menschen wie Greta Thunberg machen es uns vor.

Kollektive, geteilte Wut verbindet Menschen, stärkt ihr Gefühl von Zusammenhalt. Wütend zusammen – so stelle ich mir eine solidarische Gesellschaft vor. Eine Gesellschaft, die empowert, stärkt und verteidigt. Eine Gesellschaft, die universelle Werte wie einzelne Mitglieder gemeinsam verteidigt. Mein Gegenmittel gegen den Daueralbtraum dieser Welt ist der Traum von der geteilten Wut, die in eine schöne Welt mündet, in der kein Mensch oder Tier ausgebeutet wird, in der es weder Armut noch Reichtum gibt, in der es keine Naturzerstörung und keinen Krieg gibt. Wir brauchen Wut, um träumen zu können und damit aus diesen Träumen Realitäten entstehen.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erschien am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Gastkolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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