Klassismus
Friedrich Merz tut es, die Medien auch – und die AfD sowieso: Sie treten nach unten. Auf die sogenannten sozial Schwachen, auf Bürgergeldempfänger*innen, auf Rentner*innen, Frauen, Geflüchtete und allgemein benachteiligte Gruppen. Immer wieder dieselben Zielscheiben. Nur eine Minderheit bleibt unversehrt: die reichen Eliten.
Doch warum ist das so? Und warum hetzen sogar Menschen, die selbst unter Diskriminierung oder sozialer Ausgrenzung leiden, gegen noch Schwächere?
Nach unten treten: Wie wir Betroffene verantwortlich machen
Ein Blick in die Sozialpsychologie kann helfen, das zu verstehen. Das sogenannte Just-World-Paradigma oder Belief in a Just World (BJW) – entwickelt vom Sozialpsychologen Melvin L. Lerner – beschreibt den weit verbreiteten Glauben, dass die Welt gerecht sei und jeder Mensch das bekommt, was er oder sie verdient. Diese Überzeugung ist tief verankert. Wird dieser Glaube an Gerechtigkeit durch soziale Ungleichheit, Diskriminierung, Straftaten oder politische Entscheidungen bedroht, neigen Menschen dazu, die Betroffenen selbst verantwortlich für ihre Situation zu machen, statt die wahren Ursachen zu hinterfragen.
Sie suchen Erklärungen, die ihre Überzeugung stützen – auch wenn diese unfair oder realitätsfern sind. Wenn eine Frau sexuell belästigt wird, heißt es oft: „Sie hätte sich nicht so freizügig anziehen sollen.“ Oder wenn jemand arbeitslos ist, wird gefragt: „Hat er sich überhaupt genug bemüht?“ Diskriminierung, strukturelle Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit bleiben so unsichtbar.
Schuldige suchen statt Gerechtigkeit schaffen
Ein zentrales Muster ist auch die Abwertung von Menschen mit als niedriger angesehenem sozialen Status – sei es wegen Arbeitslosigkeit, Armut, Herkunft oder Bildungsgrad. Dieses Denken hat einen Namen: Sozialdarwinismus. Dahinter steckt die Vorstellung, dass soziale Ungleichheit „natürlich“ sei, dass die Stärkeren sich durchsetzen und die Schwächeren selbst schuld an ihrer Lage seien. Außerdem werden Menschen danach beurteilt, wie leistungsfähig und nützlich sie sind.
In der NS-Zeit führte diese Ideologie zur brutalen Verfolgung und Ermordung sogenannter „Asozialer“. Auch in der DDR wurden „arbeitsscheue Elemente“ stigmatisiert und teilweise weggesperrt. Eine gefährliche und menschenfeindliche Ideologie, die auch heute noch gesellschaftliche Ungerechtigkeit nicht nur rechtfertigt, sondern aktiv stabilisiert.
Der Mythos vom sozialen Aufstieg
Vom Tellerwäscher zum Millionär – das Märchen vom sozialen Aufstieg durch harte Arbeit hält sich vor allem in den USA hartnäckig. Und in den sozialen Medien erlebt es auch in Deutschland ein Revival. Esoterische Sinnfluencer*innen sprechen von der „Kraft der Anziehung“ oder Manifestation – dem festen Glauben daran, erfolgreich zu werden. Selbsternannte Business-Coaches verkaufen Online-Kurse und versprechen, mit ihrem Training und harter Arbeit schnell Erfolg zu haben und reich zu werden.
Doch die Realität sieht anders aus: Laut einer OECD-Studie dauert es in Deutschland im Schnitt sechs Generationen – also über 150 Jahre – um sich aus den unteren zehn Prozent der Einkommensverteilung in die gesellschaftliche Mitte hochzuarbeiten. Und selbst das gelingt nur wenigen.
Gleichzeitig wächst die Zahl der Reichen und Superreichen weltweit seit Jahren. Allein in Deutschland gab es 2024 130 Milliardäre, neun mehr als im Jahr zuvor. Wie ist das möglich?
Wer erbt, sichert sich ab
Ganz einfach: 71 Prozent der deutschen Milliardäre haben ihren Reichtum geerbt. Zum Vergleich: Weltweit erbten „nur“ 36 Prozent ihr milliardenschweres Vermögen. Wer so privilegiert aufwächst, lernt genau, wie man Reichtum schützt – mit juristischem Know-how, steuerlichen Schlupflöchern und politischen Kontakten. Der Soziologe Michael Hartmann formuliert außerdem: „Die Gewöhnung an Macht hat zur Konsequenz, dass man für sich oft andere Regeln reklamiert als die, die für den Rest der Bevölkerung gelten.“
Während die Elite ihr Vermögen absichert, werden unter Menschen am Existenzminimum Schuldige gesucht – für gesellschaftliche Krisen, soziale Ungleichheit oder finanzielle Engpässe im Staatshaushalt. Die Verantwortung wird nach unten durchgereicht, weg von den Profiteur*innen des Systems.
Nach unten treten, um die oben zu schonen
Selbstaufwertung durch Abwertung anderer, dieses psychologische Prinzip wirkt schon auf dem Schulhof und bleibt ein zentrales Element sozialer Spaltung. Wer selbst wenig hat, aber an den Mythos der gerechten Welt glaubt, neigt dazu, nach unten zu treten, statt die wahren Machtverhältnisse zu hinterfragen.
Soziologe und Armutsforscher Christoph Butterwegge bringt es auf den Punkt: „Nach unten treten, um die oben zu schonen.“ Die mediale, politische und gesellschaftliche Debatte um das Bürgergeld oder die „Faulheit“ armer Menschen dient also vor allem einem Zweck – von den wirklich Privilegierten abzulenken.
Statt also weiter auf die Schwächsten zu zeigen, müssen wir den Blick dorthin richten, wo die Probleme wirklich entstehen: bei den Superreichen und Mächtigen, die ihren Einfluss und ihr Vermögen einsetzen, um den Status quo und soziale Ungerechtigkeit zu sichern. Nur so können sie die Erzählung aufrechterhalten, dass andere, nämlich „die unter ihnen“, an Krisen, Armut und gesellschaftlichen Missständen schuld seien. Währenddessen führen sie ein ruhiges Leben – auf Kosten der Gesellschaft.