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Fünf zusätzliche Mitarbeiter:innen sind zukünftig mit der Aufgabe betraut, den Bundestag und damit die bundesdeutsche Demokratie in sozialen Medien zu repräsentieren. Gut so. Denn Transparenz, Informationen aus erster Hand, politische Bildung und kommunikative Nähe zur Bevölkerung stärken, wenn ausreichend gut gemacht, die Demokratie oder zumindest die Qualität der allgemeinen politischen Debatte.

Um diese Ansprüche zu erfüllen, arbeitet der Bundestag seit 2019 mit einem Kommunikationskonzept für soziale Medien. Konzept ist hier etwas weit gegriffen – es handelt sich um ein kommentiertes Social-Media-Inventar, das folgenden Anspruch enthält: „Bürgerinnen und Bürgern mit den Kanälen vertrauenswürdige Quellen zu bieten, bei denen sie sich umfassend und seriös über das parlamentarische Geschehen, die Arbeit des Bundestages und die Institution informieren können.“

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Hat Julia Klöckner Antworten?

Das ist keine leichte Aufgabe für das neuen Social-Media-Team. Denn Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) will diesen Anspruch ausgerechnet auf TikTok umsetzen, was viele interessante Fragen aufwirft:

  • TikTok schubst EU-Gesetze hin und her – kann es vertrauenswürdige Quellen geben auf vertrauensunwürdigen Plattformen?
  • Wie umfassend können sich Bürgerinnen und Bürger auf einer Plattform informieren, die bestimmte Inhalte pusht, während sie andere Inhalte unterdrückt (Shadow Ranking)?
  • Sollte eine Registrierung mit Geburtstag und Telefonnummer sowie die alternativlose Einwilligung in die Erhebung und Auswertung sensibler Nutzungsdaten durch ein Unternehmen in der Volksrepublik China Voraussetzung dafür sein, dass sich Menschen über die Arbeit der obersten Volksvertretung der Bundesrepublik Deutschland informieren können?
  • Mit welcher Mobiltelefonnummer will sich der Bundestag registrieren? Ist die Nummer bei Datenhändlern erhältlich und wie sicher ist das Gerät gegen Hackerangriffe? Ja, das muss leider gefragt werden, wie der Fall um den Datenhandel mit privaten Kontaktinformationen von Kanzler Friedrich Merz, seiner Minister, von Militärs, Konzern- und Behördenchefs zeigt.

„Seriös“ ist kein TikTok-Kriterium

Können sich Menschen auf einer Plattform seriös informieren, wenn die kommunikative Nachbarschaft der eigenen Inhalte aus Falschinformationen, Populismus und süchtigmachender Unterhaltung besteht und algorithmisch bevorzugt wird, weil sie kompromisslos an die Logik der Plattform angepasst ist? Wie weit kann eine vertrauenswürde Quelle gehen mit der Auswahl und Anpassung von Inhalten an diese Logik?

Laut einer aktuellen Studie enthalten 25 Prozent der Top-Suchergebnisse auf TikTok KI-generierte Bilder. 80 Prozent von denen sind von KI-TikTok-Accounts erstellt. TikTok ist organisatorisch und technisch optimiert für virales Marketing und Influencer-Marketing – nicht für Wissensvermittlung. Seriöse Akteure und Inhalte legitimieren problematische Mediennutzung. Nach zwei Minuten bekommen auch die Wissenshungrigsten Werbung für körperformoptimierende Ernährungsergänzung vorgetanzt. Da stellt sich wirklich die Frage, ob TikTok überhaupt als Kommunikationsplattform zur Verbreitung von seriösen Informationen geeignet ist.

Kann TikTok überhaupt Demokratie?

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) argumentiert: „An dieser digitalen Theke sind Menschen, die sich nirgendwo anders informieren. … Wenn wir Demokratie stabilisieren wollen, müssen wir dort auch sein und ein Angebot machen.“ Wenn sich Menschen tatsächlich exklusiv auf TikTok informieren sollten, wäre das ein erhebliches Problem, auf das die Präsenz des Bundestags keine Antwort ist.

Ob die Präsenz von öffentlichen Einrichtungen in den Sozialen Medien die Demokratie stabilisiert oder aushöhlt ist eine interessante Fragestellung. Auf die gibt es, soweit ich weiß, keine klare, empirisch belegte Antwort. Wenn der Bundestag mit diesem Argument TikTok nutzen möchte, sollte er konkrete Belege und Beispiele vorlegen.

Wer nutzt wen?

Ob der Bundestag TikTok nutzt, oder TikTok den Bundestag, also wessen Marke, Inhalte und Identität in der Kommunikation die Nutzenden in welchem Umfang erreicht, bliebe ebenfalls zu evaluieren. Das Markenlogo von TikTok wird mit jedem hochgeladenen Video verbunden. Jeder Inhalt wirbt zwangsläufig für die Plattform. Seriöse Accounts stärken die Identität und Reputation von TikTok, während die Nutzenden in Abhängigkeit geraten. Ein Umzug auf eine andere Plattform ist nicht möglich. Mitsprache bei Algorithmen ist nicht möglich. Das Einbringen eigener Interessen bei der Nutzung der Plattform sind nicht möglich.

Daraus tun sich noch mehr Fragen auf: Wie wollen die Social-Media-Fünf des Bundestages ihre Institution auf Augenhöhe auf TikTok repräsentieren? Ist eine Nutzung von TikTok vereinbar mit dem Anspruch des Koalitionsvertrags, der den Bürgerinnen und Bürgern eine Stärkung der digitalen Souveränität Deutschlands und Europas verspricht? Wie wollen die Social-Media-Fünf auf TikTok die Souveränität über die Kommunikation des hohen Hauses wahren? Ist es strategisch klug, TikTok zur Säule demokratischer Kommunikation zu machen?

TikTok ohne Jugend, und dann?

Kommerzielle Social-Media-Plattformen verursachen und verstärken psychische Probleme insbesondere bei Jugendlichen. Das zeigen Studien eindrücklich. Jüngst starb in Frankreich ein Streamer vor laufender Kamera. Für Klicks wurde er jahrelang auf sozialen Medien misshandelt.

Wie wollen die Social-Media-Verantwortlichen des Bundestags verhindern, dass ihre seriösen Inhalte neben jugendgefährdenden Inhalten in die Timelines der Nutzenden gespült werden? EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plant die Einführung einer Altersgrenze für soziale Medien wie TikTok, Instagram und Facebook ab 16 Jahren. Damit könnte der Bundestag Menschen im ausgeschlossenen Alter nicht mehr auf diesen Kanälen erreichen.

Die für eine Altersgrenze notwendige Altersverifikation wird aktuell als technische Lösung diskutiert. Das geht aber an den Ursachen der Probleme vorbei, argumentiert die EU-Digitalrechte-NGO EDRi. Eine Problemursache liegt im Geschäftsmodell der Plattformen. TikTok stellt Profitmaximierung auch über die Moderation – aktuell will das Unternehmen die dafür verantwortliche Trust and Safety-Abteilung durch externe Dienstleister ersetzen. Es ist unklug, jugendgefährdende Medien zu fördern und bessere Lösungen wie das Fediverse zu ignorieren, um schließlich Jugendliche von den toxischen Plattformen auszusprerren.

Im Januar war TikTok kurzzeitig in den USA gesperrt. Der TikTok-Ban war noch unter der Biden-Regierung beschlossen worden – der neue Präsident Trump hob ihn dann schnell wieder auf.

Jede Kritik an TikTok braucht eine konkrete Antwort

Letztendlich sollten sich Frau Klöckner und die Social-Media-Fünf des Bundestags die Frage stellen, in welche soziale Medien sie ihre Arbeitszeit, Kompetenz und Inhalte sinnvoll investieren wollen. Dabei muss sowohl die Annahme revidiert werden, dass TikTok-Nutzung demokratieförderlich sei, als auch die Annahme, dass sich via TikTok viele Menschen informieren lassen.

Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass die Nutzung von TikTok die Demokratie gefährdet – und daran darf sich der Bundestag nicht beteiligen. Ein umfassendes Social-Media-Kommunikationskonzept müsste auf jeden der zahlreichen TikTok-Kritikpunkte eine konkrete und evaluierbare Antwort haben, um die Chance für eine positive demokratische Wirkung möglichst zu erhöhen.

Eine Kommunikationsfolgeabschätzung bitte!

Frau Klöckner und das Social-Media-Team sollten eine unabhängige (!) und langfristige Kommunikationsfolgeabschätzung erstellen lassen. Die könnte unter anderem prüfen, ob der Demokratie langfristig nicht besser geholfen ist, wenn der Bundestag seine Arbeitszeit, Fähigkeiten und Expertise in die Nutzung, Förderung und Verbreitung dezentraler und gemeinwohlorientierte Kommunikationsnetzwerke, wie das Fediverse, investiert. Die Ausgangsbedingungen dafür sind optimal.

Die Bundesdatenschutzbeauftragte Louisa Specht-Riemenschneider, die den Umgang von TikTok mit den Daten der Bürgerinnen und Bürger kritisiert, betreibt eine eigene Instanz exklusiv für Bundesbehörden. Hier stehen nicht die politischen und finanziellen Interessen eines Plattformbetreibers im Fordergrund, sondern die Inhalte, die Zugänglichkeit und der Dialog. Und das sollte nicht nur für die Informationen der Datenschutzbeauftragten so sein, sondern für alle Social-Media-Inhalte des Bundestags und ihrer Politiker:innen.

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Autor*innen

Friedemann Ebelt engagiert sich für digitale Grundrechte. Im Campact-Blog schreibt er als freier Autor darüber, wie Digitalisierung fair, frei und nachhaltig gelingen kann. Er hat Ethnologie und Kommunikationswissenschaften studiert und interessiert sich für alles, was zwischen Politik, Technik und Gesellschaft passiert. Sein vorläufiges Fazit: Wir müssen uns besser digitalisieren! Alle Beiträge

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