Demokratie
Letzte Woche in der U2: Ein Mann schimpft laut über „die da oben“. Eine Frau verdreht die Augen, murmelt „typisch“ – und beide starren wieder aufs Handy. Gespräch beendet. So oder so ähnlich sieht unsere Diskussionskultur heute aus.
Das Problem? Das Tempo. Unser Alltag rast, und wir kommen kaum hinterher. Doch was heißt das konkret?
Unser Körper reagiert schneller, als wir denken können. Die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett hat gezeigt: Emotionen sind keine Reflexe, sie werden konstruiert – aus Erwartungen und Erfahrungen. Ein Kommentar, eine Geste, ein Meme – und schon läuft das Notfallprogramm: Das Herz rast, die Muskeln spannen sich an, der Atem wird flach. Das Gehirn schlägt Alarm, obwohl keine echte Gefahr droht. Die Reaktion unseres getriggerten Nervensystems ist im Gegenzug dann aber durchaus real, sie katapultiert uns augenblicklich in einen Zustand, der keiner (politischen) Diskussion zuträglich ist.
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Ständige Alarmbereitschaft macht Diskussionen unmöglich
Der Sympathikus übernimmt: kämpfen, fliehen, erstarren, beschwichtigen oder zusammenbrechen. Was evolutionär sinnvoll war – der Körper bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor – führt uns heute ins Verderben. Denn für politische Gespräche brauchen wir ein ruhiges Nervensystem. Doch die ständige Alarmbereitschaft macht das unmöglich. Die Folgen sehen wir täglich: hitzige Debatten, die ins Leere laufen.
Bis vor Kurzem konnten wir aber zwischen den verschiedenen „Trigger-Momenten“ wieder „runterkommen“. Entspannen. Unser Nervensystem wieder beruhigen. Vor der Zeit von Push-Nachrichten gab es noch Pausen, die ihren Namen verdienten. Politiker*innen sagten etwas, am nächsten Tag stand es in der Zeitung, abends lief es im Radio. Zwischen Reiz und Reaktion lagen Stunden oder Tage. Heute genügen Sekunden: Nachricht, Gegenreaktion, Shitstorm. Algorithmen verstärken das, denn Wut bringt Klicks – Nachdenken nicht. Auch wenn es dem einzelnen Individuum heute noch gelingen mag, befeuert unsere Beschleunigungsgesellschaft klar eine Struktur, die unsere Körper im Alltag täglich in unzählige Mini-Fight-or-Flight-Situationen bringt. Da können wir noch so viele Waldspaziergänge machen. Das Leben in unserer Gesellschaft fördert immer mehr Fehlregulierungen unserer Nervensysteme.
Nadelöhr zwingt uns, Informationen zu filtern
Eine Studie des California Institute of Technology (Zheng et al., 2024) zeigt: Unser Bewusstsein kann nur etwa bis zu 10 Bits pro Sekunde verarbeiten. Das ist verschwindend wenig im Vergleich zu den bis zu einer Milliarde Bits an Eindrücken, die unsere Sinne in derselben Zeit liefern. Wir reden also von einem Nadelöhr, das bis zu hundert Millionen Mal schmaler ist als der Input. Das macht deutlich, wie unfassbar wichtig unsere „Bewusstseinsfilter“ sind und wie sehr wir auf das gute Funktionieren von ihnen angewiesen sind. Überfordern wir unsere Sortiermaschine mit zu vielen Reizen, schalten wir auf Muster und Parolen um. Genau das nutzen Populisten aus. Und genau dorthin steuern wir.
Wir haben eine Welt geschaffen, in der Schnelligkeit alles ist. Doch vieles braucht Zeit. Der menschliche Körper kann nur 150 bis 250 Milliliter Flüssigkeit auf einmal aufnehmen – zwei Liter Wasser auf Ex bringen nichts. Genauso wenig kann unser Gehirn unendliche viele Informationen verarbeiten. Es braucht Zeit, um zu lesen, zu verstehen, zu durchdringen – und ein ruhiges Nervensystem.
Unsere Demokratie braucht ein Tempolimit
Wir brauchen strukturelle Tempobegrenzungen für unsere Demokratie. Kein Stillstand, kein Maulkorb – sondern Pausen, die Zuhören ermöglichen. Räume, in denen wir nicht sofort zurückschießen, sondern erst einmal verstehen. Hier setzt Mehr Demokratie an. Wir schaffen Räume, in denen Menschen wieder lernen, zu sprechen und zuzuhören. Indem wir erfahren, wie gut es tut, ehrlich gehört zu werden. Klingt erstmal banal und unpolitisch, ist es aber nicht. Menschen sitzen in kleinen Gruppen zusammen. Jede und jeder spricht reihum ein paar Minuten zu einem politischen Thema – ohne Unterbrechung, ohne Kommentare. Die anderen hören zu. Ein eingebautes Tempolimit.
Populisten den Boden entziehen
Das klingt banal, ist aber politisch. Autoritäre Bewegungen profitieren davon, wenn wir ohne Tempolimit unterwegs sind: wenn wir im Affekt reagieren, wenn Familiengespräche scheitern, wenn Menschen Angst haben, ihre Meinung zu sagen. Wer langsamer wird, wer zuhört, wer Widerspruch aushält, entzieht Populisten den Boden. Die Methode ist einfach, die Wirkung ist groß: Sie machen uns widerstandsfähiger gegen die Extreme. Und jede und jeder kann mitmachen. Mehr Demokratie bildet Trainer*innen aus und bringt die Formate in Schulen, Vereine und Gemeinden.