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Während alle vom „Herbst der Reformen“ sprechen, ist tatsächlich Herbst geworden. Es ist neblig und kalt. Passend zur sozialen Kälte, die die Bundesregierung mit ihrer neuen Grundsicherung verbreitet, wird es auch draußen ungemütlich. Wer von Armut, Wohnungsnot oder Obdachlosigkeit bedroht ist, dem stehen düstere Zeiten bevor. 

Angriff auf Armutsbetroffene

„Es wird in Deutschland niemand obdachlos. Jeder, der in Deutschland ein Dach über dem Kopf braucht, bekommt ein Dach über dem Kopf“, behauptete Friedrich Merz (CDU) vergangene Woche im Interview mit der Tagesschau. Auf die Frage, ob die neue Grundsicherung Menschen in Wohnungs- und Obdachlosigkeit treiben könne, antwortete der Kanzler mit dieser glatten Unwahrheit. Seine Worte treffen gleich zwei Gruppen, die von Armut betroffen sind: Beziehende von Bürgergeld – künftig Grundsicherung – sowie wohnungs- und obdachlose Menschen.

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Eine Annahme dahinter ist: Die Leute würden schon machen, was das Jobcenter verlangt. Die Drohung müsse nur hart genug sein. Falls sie nicht spuren, dann könnten sie es sich eigentlich leisten und betrügen den Sozialstaat. Für Merz steht fest: Wer in Deutschland auf der Straße lebt, ist selbst schuld. 

Armut ist ein strukturelles Problem

Doch Armut und Obdachlosigkeit sind kein individuelles Versagen, sondern haben strukturelle Hintergründe. Dies zu verkennen, ist hochproblematisch. Merz’ Aussage offenbart eine erschreckende Distanz zu der Lebensrealität vieler Menschen. Seine Botschaft an von Armut betroffene Menschen lautet: „Ich bin nicht euer Kanzler und ich verstehe euch nicht.“ 

Dass diese Bundesregierung keine echte Sozialpolitik machen würde, war abzusehen. Doch solche Aussagen verdeutlichen, wie weit die Entscheidungsträger*innen von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt sind. Wie sieht die Situation in Deutschland also wirklich aus?

Wohnungsnot und Obdachlosigkeit in Zahlen

Wohnungsmangel, Mietwucher, strukturelle Hürden: Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2023 fehlen in deutschen Großstädten rund 1,9 Millionen günstige Wohnungen, darunter 700.000 Sozialwohnungen, und die Tendenz ist steigend. Wer seine Miete nicht mehr zahlen kann, verliert die Wohnung. Menschen, die arbeitslos, alleinerziehend oder chronisch krank sind, finden kaum eine neue Bleibe. 

In Deutschland leben schätzungsweise 560.000 wohnungslose Menschen – viele davon sind Kinder. Die meisten von ihnen kommen in Einrichtungen der Kommunen oder der freien Wohlfahrtspflege unter. Knapp 50.000 leben auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. 

Gründe für den Verlust des „Dachs über dem Kopf“, wie Merz es nennt, gibt es viele:

Jobverlust, häusliche Gewalt oder fehlender Zugang zu sozialen Wohnungen sind nur einige davon. Und die Zahl der Menschen ohne Wohnung wächst.

Petition: Menschenunwürdige Vertreibungspolitik beenden!

Der Verein Liela e.V. kämpft für Schutzräume für wohnungs- und obdachlose Frauen in Bremen. 

Man kann kein Existenzminimum sanktionieren

Die neue Grundsicherung verschärft die Lage. Wer die Auflagen nicht erfüllt, dem droht der totale Leistungsentzug – inklusive Mietzahlungen. Die geplanten Reformen der schwarz-roten Regierung stoßen an die „Grenze, dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“, meint selbst Bärbel Bas – die als sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin das Ganze mitzuverantworten hat. 

Bereits 2019 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Totale Sanktionen, also der Entzug aller Leistungen für Menschen in Grundsicherung, sind verfassungswidrig. Ein menschenwürdiges Existenzminimum muss gewährleistet sein. 

Keine Leistung, keine Wohnung?

Dabei haben Sanktionen gar nicht die beabsichtigte Wirkung. Das hat eine Studie des Vereins Sanktionsfrei aus dem Jahr 2022 ergeben. Sie bringen Menschen nicht in existenzsichernde Jobs. Im Gegenteil: Sanktionen erzeugen Angst, Scham und Stigmatisierung. Sie können sogar dazu führen, dass Menschen sich eher verschulden, krank werden – oder ihre Wohnung verlieren. 

Für armutsbetroffene Menschen wird der totale Leistungsentzug zur realen Bedrohung, in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu rutschen. Ob das tatsächlich passiert oder nicht: Diese Drohkulisse erzeugt Existenzsorgen und kann krank machen. 

Menschenwürdige Lösungen gegen Armut

Dabei gibt es Alternativen: 

  • Grundsicherung: Der Verein Sanktionsfrei fordert, die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen. Keine Totalsanktionen, keine Drohkulisse, keine Stigmatisierung: Miet- und Stromkosten müssen übernommen, ein menschenwürdiger Regelsatz gewährleistet werden.
  • Wohnungsnot in Großstädten: Das Bündnis „Deutsche Wohnen enteignen“ fordert, die Wohnungsbestände von profitorientierten Immobilienkonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin zu vergesellschaften. So will sie Mietwucher stoppen und langfristig bezahlbaren Wohnraum schaffen. Einen Gesetzentwurf hat das Bündnis bereits ausgearbeitet.  
  • Wohnungs- und Obdachlosigkeit: Finnland zeigt mit „Housing First“, wie es geht: Jede obdachlose Person erhält bedingungslos eine Wohnung. So will die Regierung Obdachlosigkeit bis 2027 abschaffen. Auch in einigen deutschen Städten gibt es erste Modellprojekte

Wohnungslosigkeit: Eine ernsthafte Bedrohung

Kältetelefon

Auf der Website der Diakonie finden sich bundesweite Kältehilfen für wohnungslose Menschen.

Obdach- und Wohnungslosigkeit bekommen selten die Aufmerksamkeit, die sie brauchen. Während die Politik Armutsbetroffene als faul abstempelt, kämpfen Menschen auf der Straße um trockene Schlafplätze. Die Nächte werden kälter – und es fehlt an Decken, Socken und warmen Jacken. Für Menschen mit Wohnung sind die Aussichten, im Winter draußen oder in Behelfsunterkünften zu bleiben, unvorstellbar. Jeden Winter erfrieren in Deutschland Obdachlose

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Eine Bundesregierung, die mit dem Leistungsentzug droht, rettet keinen Sozialstaat. Ein Kanzler, der die strukturellen Ursachen von Wohnungslosigkeit leugnet, ist Teil des Problems. Anstatt armutsbetroffene Menschen zu entwürdigen, hätte man überreiche Menschen zur Kasse bitten können, beispielsweise durch eine dringend benötigte Reform der Erbschaftsteuer oder die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Ein echter Herbst der Reformen hätte anders ausgesehen. 

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Autor*innen

Maria Kruskop ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin. Als Campaignerin für Campacts Petitionsplattform WeAct begleitet sie langfristige wie kurzfristige Kampagnen, berät Aktivist*innen und Vereine und baut neue Netzwerke mit Initiativen und Bewegungen auf. Für den Campact Blog schreibt sie über soziale Gerechtigkeit. Alle Beiträge

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