Gerade zu Weihnachten prallen bei Familienfeiern oft unterschiedliche Meinungen aufeinander, politische Diskussionen sind dann meist unvermeidlich. Auch in diesem Jahr könnte es wieder zu Debatten kommen, denn zuletzt stritt die Bundesregierung heftig über die Rente. Nun kommt das Bürgergeld an die Reihe, welches Kanzler Friedrich Merz (CDU) bereits im Wahlkampf im vergangenen Jahr angegriffen hatte.
Die aktuellen Pläne: Das Bürgergeld soll abgeschafft werden, zu Gunsten einer „Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Sie stellt eine deutliche Verschärfung gegenüber des Bürgergeldes dar: mehr und härtere Sanktionen, Vermittlungsvorrang auch bei unpassenden Jobangeboten, keine Anpassung des Regelsatzes für 2026 – trotz steigender Lebenshaltungskosten. Die Sanktionen treffen Betroffene härter als zu Hartz-IV-Zeiten. Kanzler Merz begründet die Reform mit Einsparungen – diese wären allerdings minimal, wie selbst das Bundesarbeitsministerium erklärt. Solche Vorhaben entstehen vor dem Hintergrund genau jener Vorurteile und Mythen, die Bürgergeld-Empfänger*innen immer wieder treffen.
Schreibe Deinen Abgeordneten eine E-Mail
Die ursprüngliche Abstimmung über die neue Grundsicherung wurde vom 10. Dezember auf nächste Woche verschoben. Jetzt kommt es auf Dich an: Wenn die Abgeordneten der Regierungsparteien vor der Abstimmung möglichst viele Nachrichten erhalten, die gegen die neue Grundsicherung argumentieren, merken sie, dass ihre Wähler*innen gegen die Reform sind.
Mit einem Klick auf den Link unten findest Du die wichtigsten Argumente und die E-Mail-Adressen Deiner SPD- und Unions-Abgeordneten. Auch eine E-Mail hat Campact für Dich vorformuliert. Bitte mach mit und schreib ihnen jetzt, warum sie sich gegen die geplanten Verschärfungen beim Bürgergeld stellen müssen. Jede E-Mail an eine*n Abgeordnete*n im Bundestag kann helfen, den geplanten Verschärfungen etwas entgegenzusetzen.
Hier sind die fünf hartnäckigsten Mythen – und wie Du sie widerlegen kannst:
1. Vom Bürgergeld lässt es sich gut leben
Der für 2025 festgelegte Regelsatz für alleinstehende Personen liegt bei 563 Euro pro Monat. Zusammenlebende Paare bekommen pro Kopf noch weniger. Zum Mythos, dass Bürgergeld-Empfangende mehr Geld zur Verfügung haben als Erwerbsarbeitende, sagt Andreas Peichel, Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen: „Das ist schlicht falsch.“ Im Schnitt liegt das Bürgergeld erheblich unter dem, was Arbeiter*innen im Niedriglohnsektor bekommen. Bürgergeldbeziehende leben unter der Armutsgrenze.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband errechnet jedes Jahr auf einer gesetzlich nachvollziehbareren Grundlage als die Regierung die eigentlichen Regelbedarfe. Ihre Berechnung bezieht zum Beispiel die Inflation und generelle Verteuerung mit ein, sowie notwendige Versicherungen (Hausrat, Haftpflicht) und einen angepassten Satz für Bildung, Kultur und Körperpflege. Dinge, die die Bundesregierung entweder gar nicht berücksichtigt oder sehr knapp bemisst. Laut dem Paritätischen (zur PDF) hätte der Regelbedarf im Jahr 2024 bei 813 Euro für eine alleinstehende Person liegen müssen – das sind deutlich mehr als die festgelegten 563 Euro. Der Verband vermutet aufgrund einer aktuellen Untersuchung, dass sich durch die gesetzlich bedingten Null-Runden 2025 und 2026 die prekäre Lage für Bürgergeld-Beziehende voraussichtlich erneut verschlechtern wird.
Das spiegeln auch die Erfahrungen und Aussagen von Menschen wider, die aktuell Bürgergeld beziehen:
Das Geld reicht zum Überleben, aber nicht zum Leben.
Bürgergeld-Empfängerin im Bericht von zdfHeute
Ohne meine Ersparnisse wäre es überhaupt kein Auskommen … wenn die mal weg sind, bleibt wohl bloß der Sprung von der Brücke.
Das Geld reicht überhaupt nicht aus. Rechnungen muss man hin und her schieben, um sie irgendwie bezahlen zu können. Lebensmittel kann man nur Grundnahrung kaufen weil alles viel zu teuer ist. Ich verzichte auf so gut wie alles, um meinem Kind ein halbwegs gutes Leben bieten zu können.
Anonyme Aussagen von Befragten in der Bürgergeldstudie von Sanktionsfrei e.V.
2. Der Staat bezahlt alles
Ein Argument, das schnell auftaucht, wenn es um die täglichen Bedarfe geht. Was stimmt: Der Staat übernimmt die Kosten für Unterkunft und Heizung, soweit sie angemessen erscheinen. Die Leistungen orientieren sich am Niveau der Mieten auf dem örtlichen Wohnungsmarkt. Was allerdings nicht bezahlt wird, sind neben Gebrauchsgegenständen des täglichen Bedarfs und Lebensmitteln auch die Stromkosten. Der Anteil der Menschen in Deutschland, die mit Strom heizen, lag zuletzt bei etwa 7,5 Prozent. Zudem ist Strom seit 2021 teurer geworden. Die Pauschale, die im Regelsatz für Strom vorgesehen ist, ist außerdem oft zu niedrig angesetzt.
Ein weiterer Nachteil für Bürgergeld-Empfangende gegenüber Arbeitnehmenden: Das Jobcenter führt keine Beiträge an die Rentenversicherung für sie ab. Das mindert ihre Rentenansprüche – und erhöht das Risiko, auch im Alter in Armut zu leben.
3. Bürgergeld-Empfänger*innen arbeiten nicht, weil sie faul sind
Julia Klöckner (CDU) behauptete einst, das Bürgergeld „reize nicht zur Arbeit an, sondern eher zum Nichtarbeiten“. Diese Aussage unterstellt, Bürgergeld-Empfangende seien einfach faul. Doch von den etwa 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeld beziehen, können viele nicht anders: knapp 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche zum Beispiel.
Weitere zwei Millionen stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil sie alleinerziehend sind oder kranke Angehörige pflegen – wichtige Care-Arbeit, die nicht gesehen wird. Auch 800.000 Aufstocker*innen gehören dazu; sie verdienen trotz Arbeit nicht genug zum Leben. Der Rest könnte theoretisch arbeiten, doch die meisten haben gesundheitliche Probleme, zwei Drittel keinen Berufsabschluss. Arbeitgeber*innen scheuen davor, sie einzustellen, und wenn doch, endet die Beschäftigung oft schnell wieder. Von Faulheit kann also keine Rede sein.
Dass eine Politikerin eine solch vereinfachte und schlicht falsche Aussage öffentlich tätigen kann, ohne Widerspruch zu erfahren, verstärkt Vorurteile. Und zeigt, wie es um die Empathie und die Nähe zur Bevölkerung ihrer dem Namen nach „christlichen Partei“ bestellt ist.
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4. Wer Bürgergeld bekommt, muss sich um nichts mehr kümmern
Der Mythos des „Nichtarbeitens“ führt zu einem weiteren Irrtum: Bürgergeld-Empfänger*innen hätten nichts zu tun.
Ein Blick auf die Fakten widerlegt dies schnell:
- Kinder und Jugendliche gehen zur Schule.
- Alleinerziehende oder Pflegende leisten unermüdliche Care-Arbeit, die bekanntlich nie aufhört und quasi ein Rund-um-die-Uhr-Job ist, aber kaum Anerkennung findet.
- Wer gesundheitliche Probleme hat, ist damit beschäftigt, gesund zu werden.
- Andere nehmen an Maßnahmen des Jobcenters teil, verschicken Bewerbungen, erwerben zusätzliche Qualifikationen und haben monatliche Pflichttermine beim Jobcenter.
Bezieher*innen von Bürgergeld riskieren harte Sanktionen, wenn sie eine angebotene Arbeit ablehnen oder einen Termin versäumen. Ihr Bürgergeld kann dann für mehrere Monate um 30 Prozent reduziert werden. Manche Jobcenter reizen laut einer Befragung die aktuellen Grenzen für Sanktionen jetzt schon auch bei einfachen Versäumnissen bis aufs Äußerste aus, bis hin zu vollständiger Mittelkürzung. Die sogenannten „Totalverweigerer“, die sich jeder Maßnahme entziehen, machen nur einen ganz kleinen Anteil von etwa 0,4 Prozent aller Bürgergeld-Empfangenden aus.
Als „Totalverweigerer“ wird allerdings schon bezeichnet, wer zum zweiten Mal ein Jobangebot ablehnt (gleich, wie schlecht oder unpassend zu den eigenen Qualifikationen es auch sein mag). Das passiert oftmals auch ohne Verhandlungsgrundlage. Diese Person bekommt dann den kompletten Regelsatz für zwei Monate gestrichen. Expert*innen zweifeln allerdings stark daran, dass die Regelung zu diesen sogenannten „Totalsanktionen“ verfassungskonform ist – denn damit würde das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum unterschritten.
Der Verein Sanktionsfrei setzt sich für ein faires Bürgergeld und gegen weitere Verschärfungen der Sanktionsregelungen ein. Denn: Sanktionen treffen vor allem Menschen in besonders prekären Lebensumständen und auch Kinder, die gemeinsam mit ihren Eltern in Bedarfsgemeinschaften leben. Im Juni hat der Verein ein „Stimmungsbild nach zwei Jahren Bürgergeld“ veröffentlicht, das ein deutliches Bild zeichnet: „Die Mehrheit der Befragten (72 %) hat Angst vor weiteren Verschärfungen im Bürgergeld. Insbesondere die mögliche Wiedereinführung eines vollständigen Leistungsentzugs wird von den Befragten als akut existenzgefährdend beschrieben.“
5. Jeder kann in Deutschland Bürgergeld bekommen, das zieht Migrant*innen an
Ein Argument, das oft aus der rechten Ecke kommt: Bürgergeld lockt Migrant*innen nach Deutschland. Dazu zum Beispiel Alice Weidel (AfD) im November 2023: „62 Prozent der Familien im Bürgergeldbezug haben keinen deutschen Pass. Ihr Bürgergeld … ist ein Migranten-Geld, ein Einwanderungsmagnet.“
Diese Aussage bezog sich auf eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit vom Juni 2023. Laut dieser hatten von den damals 3,93 Millionen Bürgergeld-Beziehern 2,46 Millionen einen Migrationshintergrund – die zitierten 62 Prozent. Diese Zahl differenziert jedoch nicht: Sie umfasst auch Kinder, Kranke, Aufstocker, Alleinerziehende und Pflegende.
Zudem definiert die Agentur für Arbeit auch Menschen als „mit Migrationshintergrund“, wenn mindestens ein Elternteil außerhalb Deutschlands geboren wurde und nach 1949 zugewandert ist. Das können also auch Erwachsene sein, die in Deutschland geboren wurden, die einen deutschen Pass besitzen – auch hier ist die öffentliche Aussage einer Politikerin also schlichtweg falsch, dazu irreführend und aufhetzend.
Fakt: Geflüchtete bekommen in der Regel kein Bürgergeld
Ebenso ist zu berücksichtigen, dass im letzten Jahrzehnt viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, darunter über 1,26 Millionen Menschen aus der Ukraine. Diese dürfen ohne ein aufwändiges Asylverfahren sofort Bürgergeld beziehen. Noch – denn die anstehende Reform sieht vor, dass ukrainische Geflüchtete, die nach dem 1. April 2025 nach Deutschland gekommen sind, zukünftig kein Bürgergeld mehr bekommen sollen. Stattdessen sollen für sie die gleichen Bedingungen wie für andere Asylbewerber*innen gelten.
Asylbewerber*innen haben keinen automatischen Anspruch auf das Bürgergeld, sie erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; dieser Satz ist nochmal deutlich geringer als das Bürgergeld.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit arbeiten aktuell rund 300.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland. Etwa 706.000 bekommen Bürgergeld, davon etwa 200.000 Kinder. Rund 211.000 sind arbeitslos. 98.000 Menschen nehmen an Integrationskursen, 29.000 Menschen an berufsbezogenen Sprachkursen und 21.000 Ukrainer*innen an Arbeitsmarkt-Programmen teil. Diese Zahlen sind geringer als oft behauptet und zeigen, dass die Mehrzahl der Geflüchteten arbeiten und sich integrieren möchte.
Nicht nur gegen das Bürgergeld wird oft gewettert – auch andere Themen sind von Fake News oder verdrehten Fakten betroffen. Diese Beiträge zeigen Dir, wie Du erfolgreich dagegen argumentierst:
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wurde erstmalig am 17. Dezember 2024 veröffentlicht. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen zum Bürgergeld haben wir ihn überarbeitet, ergänzt und neu veröffentlicht.