Klimakrise Protest
Die „Letzte Generation“: Zwischen Hoffnungsträger und Klima-RAF
Das Bündnis "Letzte Generation" steht in der Kritik. Manche bezeichnen ihre Standpunkte als zu provokant, alarmistisch und übertrieben. Bringen ihre Aktionen wirklich was – oder schaden sie eher der Klimabewegung?
Autobahnen blockieren und kilometerlange Staus verursachen, hinter Glas geschützte Gemälde in Museen mit Tomatensuppe und Kartoffelbrei bewerfen und sich mit den Händen darunter ankleben, fürs Klima in Hungerstreik treten – die Aktionen der Gruppe „Letzte Generation“ sind provokativ. Sie sorgen für Aufsehen und eine öffentliche Debatte in einem Umfang, wie selten Aktionen einer kleinen Protestbewegung sie ausgelöst haben. Gleichzeitig ist noch nie einer gewaltfrei agierenden Gruppe so viel gesellschaftliche Ablehnung entgegen geschlagen. 86 Prozent der Bundesbürger*innen glauben, dass die Aktivist*innen mit ihren Aktionen wie Straßenblockaden dem Anliegen des Klimaschutzes schaden.
Auch von vielen Campact-Aktiven erreichen uns in diesen Tagen Zuschriften. Etliche fragen uns, ob wir die Aktionen nicht unterstützen und uns mit ihnen solidarisieren wollen. Andere sind besorgt oder gar erzürnt. Sie schreiben, dass die Aktionen das Ende der Klimabewegung einläuten und wollen, dass wir uns in aller Deutlichkeit davon abgrenzen.
Daher tausche ich mich zur Zeit viel mit meinen Kolleg*innen bei Campact und Menschen aus der Klimabewegung aus. Herausgekommen ist eine Einschätzung, die ich hiermit zur Debatte stellen möchte. Drei Fragen haben mich bewegt:
- Sind die Aktionen zivilen Ungehorsams zu legitimieren und daher gerechtfertigt?
- Sind die Aktionen auch vermittelbar und dienen sie unserem Anliegen?
- Inwieweit ist die alarmierende Rhetorik von Fakten gedeckt?
- Fazit
1. Sind die „Letzte Generation“-Aktionen zivilen Ungehorsams zu legitimieren und daher gerechtfertigt?
Die Antwort hierauf ist eindeutig. Die bisherigen Aktionen der „Letzten Generation“ sind in einer Demokratie nicht nur absolut legitim, sie sind sogar gewaltfreier ziviler Ungehorsam par excellence. Der berühmte Gerechtigkeitsphilosoph John Rawls hat hier klar den Rahmen definiert, innerhalb dessen ziviler Ungehorsam in einer Demokratie legitim ist. Die Aktionen müssen moralisch gerechtfertigt werden können und auf das öffentliche Wohl gerichtet sein. Sie müssen auf die Durchsetzung von Gemein- und nicht von Partikularinteressen gerichtet sein. Rawls schreibt: „Ziviler Ungehorsam ist eine in der Öffentlichkeit stattfindende, gewaltfreie, gewissensbestimmte und gesetzeswidrige Handlung mit Appell- und Symbolcharakter.“
Genau diesen Kriterien entspricht die „Letzte Generation“: Die Aktivist*innen suchen das Auge der Öffentlichkeit, sie bleiben absolut gewaltfrei, legen ihrer Handlung eine Gewissensentscheidung zugrunde und überschreiten symbolisch ein Gesetz – etwa die Straßenverkehrsordnung oder das Hausrecht eines Museums. Mindestens so wichtig ist die zweite Hälfte von Rawls Definition:
„Menschen, die Zivilen Ungehorsam anwenden, bringen durch die Gewaltfreiheit und Öffentlichkeit ihrer Handlung sowie durch die bewusste Inkaufnahme juristischer Folgen, ihre grundsätzliche Anerkennung der politischen Ordnung zum Ausdruck.“
Auch dem entspricht die „Letzte Generation“, denn sie richtet sich explizit an politische Entscheidungsträger*innen. Und verlangt von ihnen sehr konkrete politische Maßnahmen, etwa ein Tempolimit von 100 km/h oder das 9-Euro-Ticket. Genau aus diesem Grund nennt ausgerechnet Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang die Äußerungen von CSU-Landeschef Alexander Dobrinth, die Aktivist*innen seien eine „Klima-RAF“, „Nonsens“: „Anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System respektiert, wenn man eben die Funktionsträger zum Handeln auffordert.“
Umso absurder sind Forderungen von FDP und CDU, die Klimaktivist*innen hinter Gitter zu bringen. Vor wenigen Jahren hieß die Union Straßenblockaden von Landwirt*innen noch gut. Jetzt hingegen will sie für die Straßenblockaden von Klimaaktivist*innen Sondergesetze und Präventivhaft schaffen, das Strafmaß auf bis zu drei Jahre hochsetzen. Wohin solche Gesetzesverschärfungen führen, zeigt Bayern. Hier hat die CSU das Polizeigesetz dermaßen verschärft, dass eine 18-jährige Aktivistin der „Letzten Generation“ in Präventivhaft genommen wurde, nachdem sie sich auf eine Straße gesetzt hatte.
2. Sind die Aktionen auch vermittelbar und dienen sie unserem Anliegen?
Hier besteht Grund zur Debatte mit den Aktivist*innen der „Letzten Generation“. Einerseits füllen sie nur dadurch die Nachrichtenspalten und Talkshowdebatten, weil sie so provokant sind. Andere Aktionsformen der Klimabewegung werden von den Medien viel weniger wahrgenommen. Andererseits kenne ich kein historisches Beispiel, bei dem eine Bewegung erfolgreich ihr Anliegen durchsetzen konnte, indem sie große Teile der Bevölkerung gegen sich aufbrachte.
Zur Debatte um die gestorbene Radfahrerin in Berlin hat Campact-Redakteurin Tina Hayessen ein Gedicht geschrieben:
Das zentrale Problem: Die „Letzte Generation“ zieht mit ihren Aktionen die Konfliktlinie gegenüber großen Teilen der Bevölkerung. Etwa wenn sie wahllos Autofahrer*innen blockiert. Dann sind selbst die Fahrer*innen kleiner und äußerst sparsamer Elektroautos die Gegner*innen oder Personen, die gezwungen sind, das Auto zu nutzen, da der öffentliche Nahverkehr so schlecht ausgebaut ist. Dies macht es Union, FDP, AfD und dem Springer-Konzern einfach, eine regelrechte Kampagne gegen die „Letzte Generation“ zu fahren. Obwohl die Faktenlage wenig eindeutig war, machten sie die Aktivist*innen für den Tod einer Radfahrerin verantwortlich – und versuchen die kritische Stimmung gegen die Aktivist*innen dafür zu nutzen, die gesamte Klimabewegung zu diskreditieren.
Erfolgreich waren Bewegungen hingegen häufig dann, wenn sie den Konflikt mit einigen Energie- oder Autokonzernen suchten oder mit Entscheidungsträger*innen, die progressive gesellschaftliche Veränderung blockierten. Und gleichzeitig versuchten, möglichst große Teile der Bevölkerung hinter sich zu vereinigen. Ziviler Ungehorsam kann hierfür immer wieder ein zentraler Bestandteil sein. Mehr noch: Er gehört zur Demokratie und ist oft ein Treiber für progressive, gesellschaftliche Fortentwicklung gewesen. Das Ende von Kolonialismus, Apartheid und rassistischen Gesetzen, das Frauen-Wahlrecht und der Atomausstieg – all diese gesellschaftlichen Veränderungen sind ohne Aktionen zivilen Ungehorsams kaum denkbar.
Diese Aktionen waren immer unbequem und müssen es auch sein. Aber immer zielten sie darauf, breite gesellschaftliche Mehrheiten für das Anliegen hinter sich zu versammeln. Ob dies der „Letzten Generation“ gelingt, wenn sie die breite Mehrheit gegen sich aufbringt, wage ich zu bezweifeln.
Wo Festklebe-Aktionen und vielleicht sogar der Einsatz von Tomatensauce und Kartoffelbrei auf weit mehr Verständnis in der Bevölkerung stoßen würden: Wenn sie sich gegen Verkehrsminister Volker Wissing oder Finanzminister Lindner richten würden. Sie begehen derzeit einen Rechtsbruch, indem sie das Klimasofortprogramm der Regierung blockieren, obwohl dieses das Klimaschutzgesetz vorschreibt. Oder gegen Bundeskanzler Olaf Scholz, der Millionenbeträge in neue, fossile Gas-Infrastruktur im Senegal investieren will.
3. Inwieweit ist die alarmierende Rhetorik von Fakten gedeckt?
Schon der Name „Letzte Generation“ ist schrill. Und aus Umfragen unter den Campact-Aktiven wissen wir: Schnell erscheint vielen die Kommunikation rund um die Klimakrise alarmistisch und übertrieben. Einzig: Im Kreis der Klimawissenschaft wird genau diese dramatische Sicht weitgehend geteilt und mit Fakten unterlegt. Genau deshalb hat auch der UN-Generalsekretär António Guterres in dramatischen Worten auf der Weltklimakonferenz im ägyptischen Scharm El-Scheich davor gewarnt, dass wir uns auf dem „Highway zur Klimahölle“ befinden, „mit dem Fuß auf dem Gaspedal“. Die wahren Radikalen seien nicht die Klimaaktivisten, sondern jene Länder, die die Produktion von fossilen Brennstoffen ausbauen.
„Wir rasen in einen Klimakollaps. In dem alles um uns herum kollabieren wird. Zwei bis drei Jahre ist das Zeitfenster, das wir haben“, so beschreibt es Carla Rochel, Sprecherin der „Letzten Generation“. Und zumindest für das 1,5-Grad-Ziel, auf das sich die Weltgemeinschaft mit dem Pariser Klimaabkommen verständigt hat, trifft dies zu. Die CO2-Emissionen müssen nach Berechnungen des Weltklimarats IPCC bis 2030 weltweit um 45 Prozent im Vergleich zu 2010 fallen, wenn wir das Klimaziel noch erreichen wollen. Das Fatale: Sie steigen stattdessen weiter, nach Prognosen um weitere 10 Prozent! Damit befinden wir uns auf dem Weg in eine 2,5-Grad-Welt bis Ende dieses Jahrhunderts.
Du hast Fragen, Lob oder Kritik zum Campact-Blog? Wir freuen uns über Deine Mail an blog@campact.de.
Was das Gefährliche daran ist? Dass wir bei einer Erwärmung des Planeten um mehr als 1,5 Grad Kipppunkte überschreiten, durch die sich das Klima in bestimmten Weltregionen abrupt und irreversibel verändert. Dies führt dazu, dass die Klimakrise beginnt sich selbst zu verschärfen – auch wenn wir Menschen keine weiteren Klimagase mehr ausgestoßen würden. Etwa wenn wir einen Kipppunkt überschreiten, durch den die Permafrostböden in Sibirien großflächig auftauen oder der Amazonas-Regenwald vertrocknet. Hierdurch werden enorme Mengen an CO2 und Methan freigesetzt, welche die Klimakrise weiter anheizen.
Die „Letzte Generation“ warnt zusammen mit vielen Klimawisschaftler*innen zurecht davor, dass damit in vielen Weltregionen letztlich das infrage steht, was wir Zivilisation nennen. So herrschen derzeit lebensfeindliche Durchschnittstemperaturen von 29 Grad nur auf einem Prozent der Landoberfläche, vor allem in der Sahara. Dieser Bereich könnte sich auf 29 Prozent ausweiten und weite Teile der Tropen unbewohnbar machen. Das gleiche gilt, wenn die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis schmilzen und den Meeresspiegel um 1 Meter erhöhen. Hierdurch würden 280 Millionen Menschen ihre Heimat verlieren. Beide Entwicklungen könnten gigantische Fluchtbewegungen auslösen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in vielen Regionen der Erde sprengen.
Letzte Generation zeigt Konsequenzen klar auf
Vielen Menschen und auch etlichen politischen Entscheidungsträger*innen scheint die Dimension der Verwerfungen, die uns beim Überschreiten des 1,5-Grad-Limits drohen, nicht bewusst zu sein. Von daher ist es wichtig, dass die Aktivist*innen uns vor Augen führen, dass wir die letzte Generation sind, die eine Klimakatastrophe noch verhindern kann. Allerdings bleibt die Frage, ob es ihnen gelingt, diese Botschaft auch zu transportieren. Oder ob ihre provokanten Aktionsformen die Tendenz bei vielen Menschen nur weiter verstärken, die Dimension der Klimakrise zu ignorieren.
Ziviler Ungehorsam war, ist und bleibt ein zentraler Bestandteil progressiver Bewegungen, die wirkmächtig sind und politischen Wandel durchsetzen. Die Voraussetzung dafür ist, dass dieser sowohl legitim als auch vermittelbar ist. Gleichzeitig ist er „nur“ eine Aktionsform von etlichen, deren sich Bewegungen bedienen. Was genauso wichtig bleibt, sind niederschwelligere Aktionen, an denen sich Hunderttausende beteiligen: Großdemonstrationen und dezentrale Aktionstage, Online-Appelle oder Social-Media-Aktionen. Erst wenn diese gut aufeinander abgestimmt ineinander greifen, erreichen Bewegungen gesellschaftliche Veränderungen.
Genau diese Vielfalt in den Aktionsformen muss die Stärke der Klimabewegung bleiben. In Zeiten hoher Corona-Inzidenzen waren viele dieser Aktionen auf der Straße nicht mehr möglich. Umso wichtiger, dass wir als Klimabewegung jetzt wieder mehr auf sie zurückgreifen. Die 280.000 Menschen, die im September bundesweit mit Fridays For Future auf die Straße gingen, sind da ein hoffnungsvolles Zeichen.