Rechtsextremismus
Sturmvogel: Rechtsextreme Erziehung ohne staatliche Störung
Völkische Jugendlager, getarnt als harmlose Neujahrsfeiern oder Pfadfindertreffen: Der rechtsextreme „Sturmvogel“ ist ein bundesweites Netzwerk – und weitgehend unbehelligt vom Staat.
Das neue Jahr begann, wie das alte Jahr endete. In Kirchberg/Jagst-Herboldshausen standen auf einer Wiese Kinder und Jugendliche beim Morgenappell stramm. Mit Fackeln und Fahnen. Lieder stimmten sie in der morgendlichen Kälte in der baden-württembergischen Gemeinde an. Einzelne Erwachsene begleiteten das Winterlager. Sie alle trugen die Uniform des „Sturmvogel – Deutscher Jugendbund“, dessen Logo ein schwarzer Vogel auf rot-weißen Grund ist. Die Farben des deutschen Reichs. Gut 78 Jahre nach dem Nationalsozialismus werden in der Bundesrepublik Kinder und Jugendliche weiter geistig zu Rechtsextremen geschult und körperlich für den Kampf gedrillt.
Im mehrstöckigen Bauernhaus des „Bund für Gotterkenntnis“ (Ludendorff) der Gemeinde kamen an die 50 Personen zusammen. Vom 27. Dezember 2022 bis zum 1. Januar 2023 konnte der „Sturmvogel“ auf dem Anwesen der religiös-völkischen Glaubensgemeinschaft sein Lager ausrichten. Der rechtsextreme Jugendbund hat gute Kontakte zu der Gemeinschaft. Die völkischen Positionen heben inhaltliche Differenzen auf. Man kennt sich, man schätzt sich. Kurz schaute Hartmut Klink aus Ingelfingen-Lipfersberg beim Lager vorbei. Der Augenarzt ist mit der Bundesvorsitzenden der Ludendorffer, Gudrun Klink, verheiratet, berichtet Timo Büchner bei belltower.news. In seinem Beitrag vom 6. Januar schildert er weiter, dass die Teilnehmenden in der Neujahrsnacht ein großes Feuer entzündeten. Im Kreis sangen sie das Deutschland-Lied mit allen drei Strophen, im dem es bekanntlich heißt: „Deutschland, Deutschland über alles / Über alles in der Welt / Wenn es stets zu Schutz und Trutze / Brüderlich zusammenhält / Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt“. In der Bundesrepublik wird wegen der formulierten Gebietsansprüche nach 1945 alleine die dritte Strophe gesungen.
Rechtsextremes Jugendlager – getarnt als „Neujahrsfest“
Solche Winterlager, die auch als „Neujahrsfest“ firmieren, richtet der „Sturmvogel“ regelmäßig aus. Dass sowohl alle geheimgehaltenen Lager als auch Fahrten bemerkt werden, sollte nicht angenommen werden. Neujahr 2010 flatterte die Fahne des Bundes auf dem Grundstück der Jugendfreizeitstätte Recknitzberg. „Die haben sich als Pfadfindergruppe angemeldet“, sagte damals der Betreiber der Freizeitstätte in Mecklenburg-Vorpommern. Ihm sei nichts aufgefallen, führte er aus, außer dass sie „sehr umweltbewusst“ seien. Klischees von Rechtsextremen versperren bis heute den Blick auf völkisch-nationalistische Kreise. Besonders wenn die einen vermeintlich alternativen Lebensentwurf und ökologisches Bewusstsein offenbaren.
Im August vergangenen Jahres allerdings fiel Anwohnenden auf dem „Immenhof“ in Hützel ein Lager auf. Beim Spaziergang in der niedersächsischen Gemeinde wunderten sie sich über die Aufschrift am selbstgebauten Tor: „Der Fröhlichkeit die Türen auf“, stand dort. Sie dachten anfänglich, so erzählen sie es der taz, dort würde einfach ein Jugendlager ablaufen. Doch die Jugendlichen sahen so „blond aus, so auffällig blond aus“, die waren „so urdeutsch aufgemacht“. Mit ihrem Namen wollten die Beobachtenden nicht in der Zeitung stehen. Eine nachvollziehbare Sorge in ländlichen Regionen, die oft in Politik und Medien kaum wahrgenommen wird.
An den Lagern in Kirchberg/Jagst-Herboldshausen und Hützel nahm Wolfhard F. teil, schien das Lagerleben mit zu gestalten. Er kommt aus einer völkischen Familie aus dem niedersächsischen Landkreis Lüneburg. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg ermittelte 2022 gegen seinen Vater im Zusammenhang mit einer rechtsextremen Untergrundgruppe um Jens G. aus dem Raum Hannover. Diese familiären Verbindungen überraschen nicht. Die Eltern wissen, wo sie ihren Nachwuchs hinschicken und lassen ihn gerne an den Veranstaltungen des Jugendverbands teilnehmen. Sie gehören selbst der rechtsextremen Szene an, kommen aus dem NPD-Umfeld bis zur Holocaust-Leugnungs-Szene. Kontakte bestehen zur „Identitären Bewegung“.
„Sturmvogel“ hat seine Ursprünge in der verbotenen „Wiking Jugend“
Der „Sturmvogel“ selbst hat seine Ursprünge aus der 1994 verbotenen „Wiking Jugend“ (WJ). „Er ist eine radikale Abspaltung“, betont Gideon Botsch immer wieder. Der Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum an der Universität Potsdam forscht schon lange zur bündischen Jugend. 1987 entstand der „Sturmvogel“ aus einem internen Streit. Der ehemalige WJ-Bundesfahrtenführer Rudi Wittig wurde erster Bundesführer. Das WJ-Verbot wirkte sich staatlich nicht auf die Abspaltung auf. In einem der Gründungsflugblätter stellten sie ihre Intention jedoch eindeutig dar: Sie seien „volkstreu eingestellte Deutsche“. In einem ihrer Jahreskalender offenbaren sie erneut, wo die Grenzen Deutschlands verlaufen: „Auf unseren Wanderungen lernen wir Deutschland kennen“, von „Schleswig-Holstein bis nach Tirol, von Elsass bis ins Memelland“. Laut einem Gründungsflugblatt will der Sturmvogel per Jugendarbeit ein „Vorleben“ vermitteln, das gegen den „Ungeist“ aufbegehrt, „der unserem Volk derzeit jeden Atemzug verpestet“. Als „volkstreu eingestellte Deutsche“ wollen die Mitglieder leben – und am Ende auch gesellschaftliche Veränderung bewirken.
Wer aussteigt, steigt aus seinem ganzen Leben aus
Zu den Fahrten und Lagern kommen sie aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen. Ein weiterer Effekt: Paare bilden sich unter den Gleichgesinnten. Verschworene Gemeinschaften entstehen. Aus diesem rechtsextremen Spektrum kommen Aussteigende aus der Szene kaum heraus. Die hohe politische Schulung wirkt und auch die starke persönlich-familiäre Bindung. Wer hier aussteigt, steigt aus seinem ganzen vorherigen Leben aus. Nicht nur aus ein paar Jahren rechtsextremer Subkultur von Rechtsrock- bis Kameradschaftsnetzwerk.
Verfassungsschutz beobachtet „Sturmvogel“ nicht in ganz Deutschland
Alle Beiträge von Andreas Speit zum Thema Rechtsextremismus liest Du hier.
Obwohl der „Sturmvogel“ bundesweit agiert, beobachtet der Verfassungsschutz (VS) ihn nicht in ganz Deutschland. In Niedersachsen allerdings weist der VS in seinem Jahresbericht auf den Sturmvogel hin. „Die rechtsextreme Erziehung findet ohne staatliche Störung statt“, betont Andrea Röpke. Die Journalistin recherchiert immer wieder zu dem Bund. Die nachhaltigen Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen würden Politik und Sicherheitsbehörden allerdings nicht wahrnehmen – oder nicht wahrhaben wollen, so Röpke.
Schon öfters erlebte sie, dass die Polizei nach Hinweisen zu einem Lager kam, aber selten Maßnahmen einleitete. Denn es sei nichts Strafbares zu erkennen gewesen. Verbotene Symbole wurden nicht gesehen. Röpke überrascht das nicht. Dieses Spektrum ist nicht so dumm, Hakenkreuze bei ihren Lagern und Fahrten zu zeigen, sagt die Rechtsextremismusexpertin. Ein Umdenken sei geboten, dass nicht bloß plakative Symbole wahrnimmt, sondern auch völkische Positionen.