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Vergessener Tabubruch

In Berlin könnte die AfD den Regierenden CDU-Bürgermeister mit gewählt haben, in Hamburg regierte ein CDU-Bürgermeister schon mal mit Rechtspopulisten.

CDU-Politiker Kai Wegner ist im Abgeordnetenhaus im dritten Wahlgang zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt worden
CDU-Politiker Kai Wegner ist im Abgeordnetenhaus im dritten Wahlgang zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt worden / Foto: Imago

Eine Provokation hätte beim Planen bedacht werden können. In Berlin gelang es dem CDU-Kandidaten Kai Wegner erst im dritten Wahlgang, Regierender Bürgermeister zu werden. Der stark nach rechts ausgerichtete Wahlkampf der CDU dürfte selbst in der SPD nicht alle zur Regierungskoalition bewegt haben. Die SPD-Landesspitze um Franziska Giffey wollte aber die Regierungsmacht unbedingt behalten. Ein taktisches Manöver der AfD hat der neue Senat aber nicht bedacht, oder einfach für irrelevant gehalten. 

Der PR-Clou gelang

Lies hier auch den Beitrag von Campact-Vorstand Felix Kolb zur Berlin-Wahl:

In zwei Wahlgängen war es der angestrebten Regierungsspitze am 27. April nicht gelungen, die nötigen Mehrheiten zu mobilisieren. Aus der CDU-Bundesführung kamen zu Wegner schon früh warnende Worte. CDU-Generalsekretär Marion Czaja erklärte im Tagesspiegel 2021: „Wegner ist aus meiner Sicht dichter an der Position von Hans-Georg Maaßen als an denen von Angela Merkel“. Und er betonte: „In einer Großstadt wird das zum Problem“. Die weit rechten Positionen des Kandidaten dürften so auch die Erklärung der AfD nach der Wahl nicht ganz abwegig erscheinen lassen. Kaum war die dritte Wahl beendet, verkündete die AfD-Fraktionschefin Kristin Brinker, dass die Fraktion beschlossen hätte, Wegner zur „erforderlichen Mehrheit zu verhelfen“.  Diese Entscheidung sei den 17 Fraktionsmitgliedern „nicht leicht gefallen“, doch ein „wochenlanges Taktieren“ und gar eine Regierungsbeteiligung der Grünen, sei es bei Schwarz-Grün oder Rot-Grün-Rot hätte unbedingt verhindert werden müssen. Die Nachricht ging viral: ein regierender CDU-SPD-Bürgermeister von AfD-Gnaden. Der PR-Clou gelang. 

Parallelen zu Kemmerich 

Ein Bezug wurde bei Twitter schnell gezogen: Die Wahl von dem FDP-Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich, den am 5. Februar 2020 CDU und AfD zu Thüringens Ministerpräsidenten bestimmten. Der erste Landespräsident dank der AfD. Den obligatorischen Blumenstrauß überreichte die damalige Landeschefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, dem FDP-Politiker nicht. Sie schmiss ihm den Strauß vor die Füße. Eine Wahl, eine Amtsannahme, ein Tabubruch, den sie so hervorhob. Der zivilgesellschaftliche Druck und das politische Handeln bewegten CDU und FDP, ihrem Kandidaten den Rücktritt nahezulegen. Wegner selbst erklärte via Twitter zu der Thüringenwahl: „Für mich war, ist und bleibt klar: Es darf keine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit oder von der Abhängigkeit von der AfD geben“. Diese Position erscheint nun weniger „klar“. 

Erfurt ist nicht Berlin

Der Bezug in der Debatte scheint naheliegend. Beim Vergleich sollte jedoch das Vergleichende gleich sein. Erfurt ist allerdings nicht Berlin. Die Wahlkonstellation war eine andere: Rot-Grün-Rot hatte in Thüringen keine Mehrheit; CDU und SPD besaßen eine Mehrheit. Die AfD hatte in Thüringen allerdings erneut offenbart, mit allen parlamentarischen Mitteln der parlamentarischen Demokratie schaden zu wollen. In Berlin war von der AfD insofern eine ähnliche Intervention zu erwarten. 

Die AfD will mit ihrer Stiftung Millionen Euro Steuergelder abgreifen, um die rechte Bewegung zu stärken. Lies hier, warum es ein Gesetz für parteinahe Stiftungen braucht:

AfD ist eine Propagandapartei 

Aus dem Grund hatten Linke und Grüne eine Unterbrechung des Wahlganges vorgeschlagen. Ohne Erfolg. Diese Option, von Stimmen der AfD ins Amt zu kommen, schien nicht entscheidend zu sein. Im dritten Wahlgang hätte auch eine einfache Mehrheit für die Wahl gereicht. Wegner erzielte allerdings 86 Stimmen – genauso viele, wie die CDU-SPD-Koalition Abgeordnete vereint. Alles Lüge von der vermeintlichen Alternative? „Die AfD ist eine Propagandapartei“, twitterte Johannes Hillje. Und der Kommunikationsexperte hob hervor:  „Halbwahrheiten sind ihr Hauptgeschäft“. Nicht ohne jedoch zu betonen: „Das schwere Versäumnis von SPD und CDU ist es, dass sie den fruchtbaren Boden für die Halbwahrheiten der AfD geschaffen haben.“ Darauf würde die Regierung jetzt „wachsen und gedeihen“. 

Geheime Wahl wird zum Dilemma 

Den Vorwurf „ein Spektakel“ inszeniert, gar „gelogen“ zu haben, „um die Demokratie zu beschädigen“, weist die AfD derweil zurück. Die Fraktion dreht den Clou weiter, indem sie namentlich zehn Abgeordnete auflistet, die für Wegner gestimmt hätten. Per Pressemitteilung betonte die AfD: „Hätten diese Abgeordneten nicht für, sondern gegen Kai Wegner gestimmt, wäre er mit 76:80 Stimmen auch im dritten Wahlgang gescheitert“. Das Dilemma: Die Wahl ist eine geheime Wahl. Die Behauptung der AfD ist nicht zu widerlegen. 

Kai Wegner lässt sich nicht beirren

In einem RBB-Spezial versuchte Wegner die Situation selbst abzuschwächen. „Ich glaube, dass die AfD hier chaotisieren will“, sagte der Regierende Bürgermeister:

Sie will das nutzen. Weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass die AfD einen Regierenden Bürgermeister wählt, der die größte AfD-Jägerin aus ganz Deutschland nach Berlin holt. Von daher ist das ’ne Taktik, ’ne Strategie.

Kai Wegner

Mit der „AfD-Jägerin“ dürfte er sich auf die neue Justizsenatorin Felor Badenberg beziehen. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz kümmerte sich die Juristin um die Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall. So will sich Wegner nicht „beirren“ lassen. Der für die zur Machtstrebenden irreste Gedanke dürfte wohl gewesen sein, nach zwei gescheiterten Machtversuchen zu überlegen, die Machtbestrebungen zu beenden. Wenn schon die eigenen Reihen nicht so recht diese Koalition wollten, was die Abstimmung der SPD zur Neubildung signalisierte, wäre eventuell diese politische Option nachdenkenswert. 

Der Wille zur Macht könnte der AfD in Thüringen und Sachsen in die Hände spielen. Die beschworene Brandmauer der Union ist in den Bundesländern nicht zu feuerfest. Dass Konservative mit sogenannten Rechtspopulisten zusammen gehen und regieren können, bewiesen sie schon – nicht im Osten, sondern im Westen.

Weitere Beiträge im Blog zum Thema Rechtsextremismus von Andreas Speit kannst Du hier lesen.

Tabubruch in Hamburg

Vor 22 Jahren vollzog die CDU in Hamburg den Tabubruch. Die Christdemokraten bildeten mit der Partei Rechtsstaatliche Offensive – kurz Schill-Partei – die Regierung. Bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2001 erlangte die rechtspopulistische Partei aus dem Stand 19,4 Prozent. Unter der Regie vom Ersten Bürgermeister Ole von Beust wurde der Parteigründer Ronald Schill Zweiter Bürgermeister und Innensenator. Bis 2004 regierten die Rechtspopulist*innen mit, die gegen Migration und Islam hetzten sowie schärfere Gesetze und schwächere Sozialhilfe forderten. Das Tabu war gebrochen. Die CDU wollte regieren, um die Macht im „roten Hamburg“ zu erlangen. Einer der führenden Beteiligten sitzt heute für die AfD in der Bürgerschaft. Der Landesverband der Alternative beruht auf dem Personal der Schill-Partei.      

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Autor*innen

Andreas Speit ist Journalist und Autor und schreibt regelmäßig für die taz (tageszeitung). Seit 2005 ist er Autor der Kolumne "Der rechte Rand" in der taz-nord, für die er 2012 mit dem Journalisten-Sonderpreis "Ton Angeben. Rechtsextremismus im Spiegel der Medien" ausgezeichnet wurde. Regelmäßig arbeitete er für Deutschlandfunk Kultur und WDR. Er veröffentlichte zuletzt die Werke  "Verqueres Denken – Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus" (2021) "Rechte Egoshooter" (Hg. mit Jean-Philipp Baeck, 2020), "Völkische Landnahme" (mit Andrea Röpke, 2019), "Die Entkultivierung des Bürgertums" (2019). Alle Beiträge

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