Antirassismus Rechtsextremismus
„Wer diese Werte nicht vertritt …“
Am 2. Juni 2019 starb der CDU-Politiker Walter Lübcke – ermordet von einem Rechtsextremisten vor seinem Haus. Medien und Politik sprachen davon, der Mord sei eine "Zäsur". Drei Gründe, warum sie recht haben.
Es ist der 14. Oktober 2015. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) ist zu einer Veranstaltung eingeladen, bei der er über eine geplante Unterkunft für Geflüchtete informiert. Lübcke sagt: „Ich würde sagen, es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten.“ Aus dem Publikum werden Provokationen gerufen; Einzelne versuchen, die Diskussion zu stören. Und Lübcke reagiert: „Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist.“ Videos von dem Abend landen im Netz, verbreiten sich in rechtsextremen Kreisen wie ein Lauffeuer. Über Jahre schwelt die Wut auf Lübcke in der rechten Szene. Vier Jahre später – am 1. Juni 2019 – wird er auf der Terrasse seines Hauses von einem Rechtsextremen erschossen.
Mord an Walter Lübcke ist eine „Zäsur“
Der Mord an Walter Lübcke löste Schockwellen im ganzen Land aus. Nicht nur große Medienhäuser, auch zahlreiche Politiker*innen, wie der damalige Innenminister, nannten den Mord eine „Zäsur“. Also etwas Einschneidendes, einen Punkt, nach dem es nicht weitergehen kann, wie davor. Im Ergebnis ist das fraglich: Die Gefahr von rechts ist immer noch präsent – und hat in der Tendenz sogar zugenommen. Doch tatsächlich stechen mehrere Aspekte hervor, die den Fall Lübcke aus dem verstörenden Panorama rechtsextremer Gewalttaten herausheben.
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Das Internet vergisst nicht
Auffällig ist erstens, welche Rolle das Internet bei der Ermordung des CDU-Politikers spielte. Zwischen dem Mord und seinem Auslöser – der Bürgerversammlung, bei der Lübcke sein Wertebekenntnis anmahnt – lagen fast vier Jahre. Vier Jahre, in denen das Video von der Versammlung in den Untiefen des Internets schlummerte und immer wieder Empörungswellen auslöste, wenn einflussreiche Akteure es wieder verbreiteten. Dafür sorgten auch prominente Rechtsaußen-Akteure: Erika Steinbach, heute Chefin der AfD-Stiftung, teilte das Video im Februar 2019 – über drei Jahre nach Lübckes Worten. Selbst als sich auf ihrem Account die Morddrohungen gegen den Politiker häufen, entfernte sie das Posting nicht. Das Internet vergisst nicht. Selbst Jahre alter Inhalt kann Empörung, Wut, oder gar Gewalt auslösen.
Erstes Todesopfer der eskalierenden Gewalt
Zweitens war Walter Lübcke der erste bundesdeutsche Politiker, der Rechtsextremisten zum Opfer fiel. Tödlicher Höhepunkt einer Entwicklung, in der Politiker*innen immer mehr zur Zielscheibe von Hass und Gewalt werden. Lübcke war nicht der erste einflussreiche Politiker, der im letzten Jahrzehnt gewaltsam angegriffen wurde (man denke an die Attacke auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die sie 2015 knapp überlebte), doch das erste Todesopfer der eskalierenden Gewalt. Dass Politiker*innen heute mit mehr Hass und Angriffen rechnen müssen als noch vor einigen Jahren, wird durch Statistiken des Bundeskriminalamts (BKA) bestätigt. Zählte die Behörde 2017 noch 1527 Straftaten gegen Mandatsträger*innen, hat sich die Zahl bis 2021 mehr als verdreifacht. Bei der Frage danach, woher die Bedrohung kommt, nannten zwei Drittel der Politiker*innen Rechtsextremismus als die größte Bedrohung. Weit dahinter folgen religiöse und linksextremistische Motive.
Die Angriffe bedrohen unsere Demokratie
Dieser Hass, der immer wieder den Weg aus dem Internet findet und in physische Gewalt umschlägt, ist nicht nur eine individuelle Belastung für die Betroffenen. Indem immer mehr Menschen attackiert werden, die eine zentrale Funktion für die Gemeinschaft und das gesellschaftliche Miteinander einnehmen, bedrohen die Angriffe auch unsere Demokratie. Eine funktionierende Demokratie lebt davon, dass sich Menschen aktiv für sie einsetzen – das wird immer schwieriger, wenn diese Menschen on- und offline Hass und Gewalt fürchten müssen. Der Mord an Walter Lübcke zeigt eindrücklich, wohin diese Eskalation führen kann, wenn es nicht gelingt, die zu schützen, die für eine offene Gesellschaft eintreten.
Auch im Rahmen des Europawahlkampfes 2024 kam es immer wieder zu Übergriffen gegenüber Politiker*innen:
Das „typische“ Opfer
Und drittens passt Walter Lübcke nicht in das Bild eines Opfers rechter Gewalt: ein 65-jähriger Mann, konservativ, weiß. Noch vor wenigen Jahren fristete der gesellschaftliche Diskurs über gewaltbereite Rechtsextreme ein Schattendasein. Denn die Opfer waren oft marginalisierte Gruppen: Schwarze Menschen, Muslim*innen, „Fremde“. Als weiße*r aus der Mittelschicht konnte man leicht denken: „Gut, hin und wieder mal ein rechter Übergriff, aber mir kann das nicht passieren“. Zu beobachten war dieser Reflex etwa in den Reaktionen auf die Morde des NSU: Da die Opfer überwiegend nicht-weiße Menschen waren, flog der rechtsterroristische Hintergrund lange unter dem Radar. Von „Döner-Morden“ war die Rede; die Familien der Opfer wurden ausgiebig zu vermeintlichen Clan-Verbindungen und Drogenkonsum der Ermordeten befragt. Rechte Gewalt wurde bagatellisiert und ganz weit weggeschoben.
Niemand ist davor sicher
Spätestens mit der Ermordung eines weißen Konservativen zeigte sich, dass diese Verleugnung nicht aufrechterhalten werden kann. Das Mordmotiv – Lübckes Eintreten für die Werte einer demokratischen und offenen Gesellschaft – verdeutlicht aber auch, wie tief rassistische Strukturen unseren Alltag durchdringen: Der Täter war bereit, einen Menschen zu töten, weil dieser die Unterbringung von Geflüchteten rechtfertigte. Rassistische Denkmuster und die Angst vor dem Verlust weißer Privilegien sind also stark genug, Gewalt auszulösen – und niemand ist davor sicher.
Rechte Gewalt ist kein Relikt der 1990er – sondern tötet noch immer Menschen. Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft im Kampf gegen rechte Gewalt? Darüber spricht Victoria Gulde mit Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung:
Der Staat ist aufgewacht
Eine Zäsur also: Die Erkenntnis, dass es kein „Weiter so“ gibt. Dass wir rechte Gewalt ernst nehmen müssen. Ein erstes Umdenken hat der Mord ausgelöst: Der Staat ist aufgewacht, hat sich fest das rechte Auge gerieben und es dann deutlich weiter geöffnet als zuvor. Doch damit ist es nicht getan. Um weitere Gewalt zu verhindern, müssen wir aus dem Fall Lübcke lernen. Wir müssen Menschen schützen, die sich engagieren. Nicht nur Politiker*innen, sondern alle, die unsere Gesellschaft lebenswert gestalten wollen und sich gegen Rechts stellen. Wir müssen rassistischen Hass bekämpfen: Wo die Schwelle fällt, Menschen Gewalt anzutun, weil sie Menschen als „Andere“ betrachten, ist unser Zusammenleben fundamental bedroht.
Wir dürfen ihnen diese Räume nicht überlassen
Und wir müssen Radikalisierungsdynamiken im rechten Spektrum noch besser verstehen. Denn zu Tätern werden nicht einfach frustrierte Männer, die im stillen Kämmerlein zu viel gegoogelt haben. Hinter den Tätern steht eine Community – online wie auch im analogen Leben – die ihren Hass nährt, sie anstachelt und unterstützt. Eine Community, die Walter Lübcke vier Jahre lang zum Gegner stilisierte, bis einer zur Waffe griff. Der Mord an Lübcke richtet den Scheinwerfer auf eine Szene, die bereit ist, Gewalt gegen alle anzuwenden, die für eine offene Gesellschaft einstehen. Diese Räume dürfen wir ihnen nicht überlassen. Wir: der Rechtsstaat. Wir: politisch Engagierte. Wir: auch Du.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag ist erstmalig am 2. Juni 2023 erschienen. Wir haben ihn aktualisiert und erneut veröffentlicht.