LGBTQIA*
„Nirgendwo in der EU gibt es mehr Homophobie“
Polen gilt als eines der queerfeindlichsten Länder in der EU. Aber es gibt Hoffnung – sagt Jakub Kocjan von Akcja Demokracja, Campacts polnischer Schwesterorganisation.
In diesem Sommer fuhr ich das erste Mal in meinem Leben nach Warschau – und war überrascht. An den Clubs und Cafés am Ufer der Weichsel wehten Regenbogenflaggen, auf der Straße lief ein Frauenpaar Hand in Hand an mir vorbei. Damit hatte ich nicht gerechnet. Eher mit den „Stop LGBT“-Schmierereien, die ich auf der Hinfahrt aus dem Zugfenster sah.
Im jährlichen Rainbow-Ranking der International Lesbian and Gay Association Europe landet das Land regelmäßig auf einem der hinteren Plätze. Im direkten Vergleich mit anderen EU-Staaten liegt unser Nachbar sogar auf dem letzten Platz – es steht schlecht um die rechtliche und gesellschaftliche Situation von queeren Menschen.
Eine stark polarisierte Gesellschaft, die einflussreiche katholische Kirche, eine Regierungspartei, die sich sogar offiziell vorgenommen hat, die Rechte von queeren Personen einzuschränken – die Lage ist nicht einfach. Doch es gibt Hoffnung: Im Umfragen zeigt sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung offen für die Ehe für alle; der Warschau Pride ist der größte Mitteleuropas. Und es gibt zahlreiche Aktivist*innen, die für die Rechte von queeren Menschen kämpfen. Einer von ihnen ist Jakub Kocjan. Er arbeitet für Campacts polnische Schwesterorganisation Akcja Demokracja.
Jakub, Polen gilt als eines der queerfeindlichsten Länder Europas. Was denkst Du darüber?
Leider stimmt das. Nirgendwo in der EU gibt es mehr Homophobie – und unter der rechten Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die seit 2015 an der Macht ist, eskalierte die Lage.
Die PiS hatte es zunächst auf Muslime und Migranten abgesehen, aber ab 2019 griff sie verstärkt die LGBT+-Gemeinschaft an. Der Parteivorsitzende Andrzej Duda sagte offen: „LGBT sind keine Menschen.“ Das war ein sehr gefährlicher Moment: Die Zahl der Selbstmorde unter LGBT+-Teenagern explodierte, körperliche Übergriffe waren an der Tagesordnung. Selbst in Warschau wurde ein schwules Paar mit dem Messer angegriffen – weil es sich an den Händen hielt. Der Angreifer wiederholte, was er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gehört hatte: Schwule seien gefährlich für Kinder.
Jakub Kocjan (Akcja Demokracja)
Jakub Kocjan ist Aktivist für Rechtsstaatlichkeit und Vorstandsmitglied bei Akcja Demokracja. Der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski hat den Juristen und Wirtschaftswissenschaftler für „prodemokratische und antifaschistische Aktivitäten“ und für die „aktive Verteidigung der Unabhängigkeit der Justiz“ ausgezeichnet.
Ich selbst bin 2019 während einer Pride-Demo mit Steinen angegriffen worden. Und als ich gemeinsam mit meinem Kollegen Dominik Puchała gegen den größten rechten YouTube-Kanal in Polen kämpfte (mit Erfolg, er wurde verboten), erlebten auch wir eine Welle aus Hass im Netz: Tausende Kommentare und Drohungen prasselten auf uns ein. Fast immer ging es um unsere angebliche sexuelle Orientierung, bevorzugte sexuelle Stellungen und unsere vermeintliche Beziehung. Homophobie ist in Polen immer noch eine mächtige politische Waffe.
Keine gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, kein Adoptionsrecht, dafür aber LGBT-freie Zonen auf dem Land und viele Hürden für trans Menschen – wie steht es um die rechtliche Lage von queeren Menschen?
Die Rechtslage ist wirklich schwierig. Wir haben weder gleichgeschlechtliche Partnerschaften noch gleichgeschlechtliche Ehen. Vereinzelt gibt es Zugeständnisse, wenn Richter*innen selbst aktiv geworden sind – etwa beim Recht, nicht gegen den Partner auszusagen, auch wenn dieser gleichgeschlechtlich ist.
Unter der Mitte-Rechts-Regierung, die von 2007 bis 2015 an der Macht war, hat der Staat der LGBT+-Community nicht geholfen, sie aber auch nicht ins Visier genommen. Dann kam PiS – und alles wurde schlimmer. Die Regierung begann zu sabotieren, dass Personen des gleichen Geschlechts im Ausland heiraten. Dafür benötigen sie nämlich ein Dokument, das bestätigt, dass sie nicht bereits in einer anderen Ehe leben – und die Staatsanwaltschaft versuchte, die Ausstellung dieses Dokuments zu unterbinden. Heiratswillige mussten den Namen ihres zukünftigen Ehepartners preisgeben; wenn dieser wie ein Name des gleichen Geschlechts klang, gab es keine Bestätigung.
Auch auf die Kinder homosexueller Menschen hat es die Regierung abgesehen. Lesbische Paare mit Kind etwa, die ihre Elternschaft mit ausländischen Dokumenten belegen wollen, haben damit auf polnischen Ämtern keine Chance.
Ein anderes Beispiel: Derzeit müssen Transsexuelle ihre eigenen Eltern verklagen, wenn sie ihr Geschlecht in juristischen Dokumenten ändern wollen. Der rechte Justizminister Zbigniew Ziobro wollte sogar Kinder und Ehepartner auf die Liste der Personen setzen, die in diesem Fall verklagt werden müssten.
Was glaubst Du, warum ist das so? Und welche Rolle spielt die Kirche?
Die katholische Kirche ist die Hauptquelle von Hass in Polen. Solange sich die Beziehung zwischen Kirche und Staat bei uns nicht ändert, ist ein wirklicher sozialer Wandel unmöglich. Die Kirche ist die reichste Organisation in Polen, Priester engagieren sich offen in der Politik.
Kinder haben in der Schule mehr Religionsstunden als Biologie, Chemie oder Physik! Der Religionsunterricht wird nicht von Schulleiter*innen, sondern von Bischöfen kontrolliert. Als Atheist nahm ich in der Mittelschule nicht an Religion teil, aber als die Schulbibliothek renoviert wurde, musste ich einen Monat lang dabei sein. Jede Unterrichtsstunde war ein Angriff auf Schwule, Juden oder Muslime und wir schauten Filme, die vom rechten katholischen Fernsehen produziert waren.
Historisch betrachtet war Polen eigentlich recht tolerant gegenüber LGBT+-Menschen, selbst im Vergleich mit Westeuropa. Wir hatten vier schwule oder bisexuelle Könige, viele unserer größten Schriftsteller*innen waren LGBT+. Im Unterricht wird all das verschwiegen. Richtig lächerlich wird es, wenn Homosexualität in Romanen, Gedichten oder griechischen Mythen nicht offen besprochen, sondern hinter abstrakten Begriffen wie „Liebe“ oder „Gastfreundschaft“ versteckt wird.
Vor ein paar Wochen kam es zu einem heftigen Skandal. Einige Priester nahmen die Dienste eines jungen männlichen Sexarbeiters in Anspruch. Bei der Orgie im Kirchengebäude verlor er das Bewusstsein. Dann wurde es richtig gefährlich: Die Priester waren bereit, das Leben des Mannes zu opfern, um zu verbergen, was gerade passiert war. Denn als der Partner des Mannes den Krankenwagen rief, blockierten sie die Tür und öffneten den Ärzten nicht – bis die Polizei eingriff.
Du lebst im vergleichsweise liberalen Warschau. Wie groß sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land?
Sie sind groß. Vor allem in den Großstädten hat die katholische Kirche ihre Macht eingebüßt. In der Grundschule war ich das einzige Kind, das keinen Religionsunterricht besuchte. Mein Bruder ist nur sechs Jahre jünger, aber in seinem Jahrgang hat schon die Hälfte der Schüler nicht mehr teilgenommen. Viele junge Menschen können ihre Identität mittlerweile viel freier entdecken.
Heute ist es für Schwule ungefährlich, im Stadtzentrum von Warschau, Krakau und Posen Händchen zu halten – vor zehn Jahren wäre das kaum vorstellbar gewesen. Aber außerhalb von Großstädten ist das immer noch unmöglich. Deshalb habe ich mich in den letzten Jahren für die Pride-Demo in Częstochowa (Anmerkung der Redaktion: Stadt im Verwaltungsbezirk Schlesien) engagiert; auch Akcja Demokracja nimmt jedes Jahr daran teil. Wir wollen zeigen, dass Veranstaltungen wie diese nicht nur in großen Städten möglich sind.
Viele Lehrer*innen unterstützen Jugendliche dabei, ihre Identität zu entdecken – aber zwischen privaten und öffentlichen Schulen sowie zwischen Großstädten und ländlichen Gebieten gibt es große Unterschiede. Vor allem an öffentlichen Schulen haben Lehrer*innen Angst. In durchgesickerten E-Mails der rechten Regierung wurden sie als eine Gruppe bezeichnet, die „durch Hass ausgerottet“ werden solle – weil sie zu fortschrittlich seien und die Regierung nicht ausreichend unterstützten. Und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gab es Spots, in denen Lehrer*innen auf die gleiche Weise angegriffen wurden wie zuvor Richter*innen und Ärzt*innen.
Was ist Dein Gefühl, wenn Du auf die letzten Jahre zurückschaust: In welche Richtung bewegt sich die polnische Zivilgesellschaft?
2019 nahm ich an der ersten Pride-Demo in Białystok teil, der Heimat meiner Großeltern. Es ist eine wirklich schöne Stadt in der vielfältigsten Region Polens – mit Orthodoxen, Muslimen, aber leider auch vielen Rechtsextremen. Die katholische Kirche und Neonazi-Gruppen aus dem ganzen Land organisierten regelrechte Hetzjagden auf die Teilnehmer*innen. Teenager mit Regenbogentaschen wurden geschlagen, Menschen, die „nicht maskulin genug“ aussahen, auf der Straße angegriffen. Während der Demo bekam ich einen Stein in den Rücken geworfen – von Leuten, die neben einer Kirche beteten. Es war schrecklich.
Nach diesen Ereignissen gab es Solidaritätsveranstaltungen im ganzen Land. Viele Menschen outeten sich öffentlich, Prominente zeigten ihre Unterstützung. Białystok war ein Weckruf für viele.
Ich glaube, die polnische Gesellschaft wird immer fortschrittlicher. Viele Jahre lang herrschte eine regelrechte Panik davor, als homosexuell wahrgenommen zu werden. In Facebook-Gruppen fragten junge Leute besorgt: War es schwul, dass ich meinen Freund umarmt habe, als seine Mutter starb? War es schwul, dass ich nach dem Schwimmunterricht nackt duschte? Heute hat die Jugend deutlich weniger Angst vor diesem Etikett.
Sogar die Konfederacja hat versucht, ihre Rhetorik gegenüber LGBT+-Menschen zu ändern. Dabei ist die Partei der PiS eigentlich sehr ähnlich, hat aber eine jüngere Wählerschaft, ist offener prorussisch und hat sehr homophobe Parlamentsabgeordnete. Einer hatte die Idee, ein Register aller schwulen Männer im Land zu erstellen, um ihnen den Beruf als Lehrer zu verbieten. Ein anderer schlug sogar vor, Homosexuelle öffentlich auszupeitschen.
Im Wahlkampf versuchte die Konfederacja, sich als Kämpfer für die Rechte von Homosexuellen darzustellen. Das war natürlich nur ein politischer Trick, aber ihr Anführer Sławomir Mentzen gab bei der Vorstellung der Kandidaten in Białystok bekannt, dass er sich für einen nur entschieden habe, weil er jung und attraktiv sei und dies Schwule ansprechen könne. Anschließend erklärte dieser Kandidat, wie er die Diskriminierung von Homosexuellen beenden wolle – mit der Abschaffung der Erbschaftssteuer.
Mitte Oktober waren in Polen Parlamentswahlen. Welche Rolle haben LGBTQ*-Themen im Wahlkampf gespielt?
Es war kein Thema. Man könnte meinen, dies sei ein Versagen von NGOs, aber das Gegenteil ist der Fall. Es war die erste Wahl seit vier Jahren, bei der die Regierung entschied, dass ihnen ein Angriff auf die LGBT+-Community keine Stimmen einbringen würde. Jede demokratische politische Gruppe jenseits von PiS (die sozialdemokratische Neue Linke, die zentristische Bürgerkoalition und der konservative Dritte Weg) unterstützte offiziell die Einführung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.
Die rechtsnationale PiS ist zwar stärkste Kraft geworden, aber die Opposition rund um den früheren Premierminister Donald Tusk erreichte eine deutliche Mehrheit und könnte die nächste Regierung bilden. Was würde das für die queere Community bedeuten?
Um die PiS abzulösen, müssten mehrere Parteien und Bündnisse in Polen eine Koalition bilden: die Bürgerkoalition, die Neue Linke und der Dritte Weg. Inhaltlich liegen sie jedoch teilweise weit auseinander.
In vielen Bereichen kann diese Koalition Großes leisten. Wenn es jedoch um Abtreibung und LGBT+-Rechte geht, ist die Situation schwierig. Obwohl das konservative Wahlbündnis Dritter Weg vor der Wahl gleichgeschlechtliche Partnerschaften unterstützte, sagten einige ihrer Politiker bereits, dass sie diese nun doch ablehnen. Bei Akcja Demokracja wird es eine unserer Hauptaufgaben sein, sie wieder davon zu überzeugen.
Wir wissen jedoch, dass die Neue Linke die Rechte von LGBT+ unterstützt. Ebenso die Bürgerkoalition – abgesehen vom Adoptionsrecht. Da es im neuen Parlament keine Mehrheit für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe geben wird, besteht unser zweites Ziel darin, Hassrede gegen die LGBT+-Gemeinschaft zu verbieten. Als einzige Minderheitsgruppe sind sie bislang offiziell nicht davor geschützt.
Was glaubst Du, in welche Richtung wird sich Polen in den nächsten Jahren entwickeln – und wie können wir Euch aus Deutschland dabei unterstützen?
Ich kenne viele LGBT+-Menschen, die nach den Ereignissen von 2019 und 2020 aus Polen nach Deutschland geflohen sind, vor allem nach Berlin. Die deutsche Botschaft unterstützt unsere Pride-Demos und LGBT+-Organisationen, ebenso wie die skandinavischen Länder und die Benelux-Staaten. Außerdem haben uns deutsche NGOs in der schwierigsten Zeit unterstützt. Dafür sind wir wirklich dankbar.
Auch in Italien verschärft sich die Situation für die queere Community.
In den nächsten Jahren brauchen wir Ausdauer und eine starke Stimme – denn LGBT+-Rechte sind Menschenrechte. Ohne sie gibt es keine Demokratie. Ein unabhängiges Justizsystem ist entscheidend, aber nicht genug. Wir müssen den Menschenrechtsstandard in der EU erhöhen: gleichgeschlechtliche Ehen, Lebenspartnerschaften und legale Abtreibung in jedem Mitgliedsstaat. Wahrscheinlich wird all das in ein paar Jahren vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder vielleicht sogar vom Europäischen Gerichtshof eingeführt, aber wir müssen konservative Politiker*innen und Richter*innen auf allen Ebenen stoppen, damit das auch wirklich klappt.
Gleichzeitig glaube ich, dass Deutschland mehr für die polnischen Menschenrechte hätte tun können – nicht mit Blick auf LGBT+-Themen, sondern beim Angriff auf unsere Rechtsstaatlichkeit. Als die PiS-Regierung das Verfassungsgericht, den Obersten Gerichtshof und das Justizsystem übernahm, erhielt sie mächtige Instrumente, um LGBT+-Menschen zu verfolgen. Angela Merkel setzte jedoch den Dialog mit der polnischen Regierung fort – so wie zuvor mit der ungarischen. Einige deutsche Politiker nutzten sogar unsere schwierige gemeinsame Geschichte als Vorwand, um nicht handeln zu müssen. Es war eine wichtige Lektion für uns alle: Wir dürfen uns von den Rechten nicht erpressen lassen. Verhandlungen mit ihnen sind wertlos. Wir müssen jede Möglichkeit nutzen, um sie zu bekämpfen!