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Taktiken, um Wohnungsnot zu begegnen – und warum Finnland es besser macht
Wohnungsnot und Mietenwahnsinn sorgen in Deutschland, aber auch in ganz Europa für große Probleme. Eine Konsequenz ist nicht selten Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Deutschland, Frankreich und Finnland haben sehr unterschiedliche Ansätze, damit umzugehen. Was defensive Architektur und das Konzept "Housing First" damit zu tun haben.
Die Wohnungsnot in Deutschland ist so groß wie selten zuvor. Eine Folge überteuerter Mieten und der Spekulationen mit Immobilien: Immer mehr Menschen finden überhaupt keine Wohnung. Nach der jüngsten Hochrechnung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) lag die Anzahl der Wohnungslosen im Jahr 2022 bei 607.000 gegenüber 383.000 im Jahr 2021. Rund 50.000 Menschen lebten danach ganz ohne Unterkunft als Obdachlose auf der Straße.
Unterschied zwischen wohnungslos und obdachlos
In Deutschland gilt eine Person als wohnungslos, wenn sie nicht die Möglichkeit hat, in einer Wohnung zu übernachten, die ihr durch einen Miet- oder Pachtvertrag oder andere vertragliche Regelungen zusteht. Findet sie dennoch eine anderweitige Unterkunft – in Notunterkünften, Heimen, Frauenhäusern, oder bei Freunden oder Verwandten – gilt sie als wohnungslos.
Ist dies nicht mehr der Fall und übernachtet die Person auf der Straße, gilt sie als obdachlos. Diese anteilig kleinere Gruppe der Obdachlosen, die unter Brücken oder in Zelten schläft, wird von der Öffentlichkeit allerdings häufiger wahrgenommen.
Die BAGW erklärt den Anstieg unter anderem mit mehr Geflüchteten, die keine Wohnung hätten, zum Beispiel aus der Ukraine. Andere Gründe für Obdach- oder Wohnungslosigkeit sind Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld oder eine Trennung oder Scheidung.
Fehlender bezahlbarer Wohnraum bleibt der Hauptgrund für die Wohnungsnot in Deutschland.
Werena Rosenke, BAGW-Geschäftsführerin
Obdachlos – und aus der Öffentlichkeit verdrängt
Die EU wünscht sich, dass bis 2030 Obdachlosigkeit kein Thema mehr sein wird. Die Bundesregierung hat dazu im Mai 2024 den Aktionsplan „Gemeinsam für ein Zuhause“ vorgestellt. Zu den geplanten Maßnahmen gehören ein angepasstes Wohngeld, Verbesserung der Notunterkünfte und „mehr Wissenstransfer“ zum Thema. Sehr abstrakt und wenig konkret, kritisieren Sozialverbände.
Ganz anders sind hingegen die Maßnahmen, die viele Städte in Europa – auch in Deutschland – ergreifen, um Obdachlosigkeit auszublenden. Sie lassen sich unter dem Begriff „defensive Architektur“ zusammenfassen.
Was ist defensive Architektur?
Dazu zählen bauliche Maßnahmen im öffentlichen Raum, die verhindern, dass sich Obdachlose dort niederlassen. Defensive Architektur hast Du sicher schon einmal gesehen:
Beispiele für defensive Architektur:
- Bänke, die einen Bügel zwischen den zwei Sitzplätzen haben, damit man sich nicht hinlegen kann
- Anlehn-Bügel statt Bänke, die das Hinsetzen oder Hinlegen komplett verhindern
- Sitzgelegenheiten mit nur sehr schmalen oder abgeschrägten Sitzflächen
- Unebene statt glatt betonierte oder gepflasterte Flächen, die ein Hinlegen (z.B. unter Brücken) verhindern sollen
- Querverstrebungen auf Luftschächten
- Spitzen aus Metall, entweder viele kleine auf großer Fläche oder einzelne auf Betonpollern
Verdrängung der Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum als Allheilmittel? Ganz aus dem Blickfeld verschwinden Obdachlose auch durch defensive Architektur nicht. Oft bleiben sie am selben Ort, ihre Situation wird nur noch ungemütlicher. Außerdem hat defensive Architektur psychologische Folgen – denn diese offensichtlich gegen sie gerichtete Stadtgestaltung sendet die klare Botschaft: „Wir wollen euch nicht, verschwindet, und wir wollen auch euer persönliches Schicksal nicht sehen.“
Begriff ‚defensive Architektur‘ ist missverständlich
„Defensive Architektur“ ist ein verschleiernder Begriff. Er klingt so, als ginge es um Burgen, Verteidigungsgräben oder Erdwälle, um sich gegen nahende Horden zu verteidigen. Nichts davon ist der Fall – stattdessen geht es darum, Personen und ihre Schicksale unsichtbar zu machen. Der englische Begriff „hostile architecture“ (dts. „feindliche Architektur“) erfasst den Charakter daher viel besser. Nicht umsonst belegte „defensive Architektur“ den dritten Platz bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2022.
Paris vertreibt Obdachlose von den Straßen
Nicht nur Deutschland hat ein Problem mit Wohnungs- und Obdachlosigkeit. In der EU ist die Zahl der Obdachlosen in den letzten zehn Jahren um mehr als 70 Prozent gestiegen. Die Gründe sind hier oft die gleichen wie in Deutschland: Inflation, steigende Mieten, kaum bezahlbarer Wohnraum und Flucht.
Im Großraum Paris leben rund 100.000 Menschen ohne Dach über dem Kopf. Oder besser gesagt: lebten. Denn im Vorfeld der Olympischen Spiele 2024 quartierte Frankreich mit Hilfe der Polizei fast 13.000 Menschen aus Paris aus, vor allem Flüchtlinge, Obdachlose, Drogenabhängige und Sexarbeiter*innen. Die Stadt sollte sich von ihrer besten Seite zeigen – stattdessen stand sie für diese „soziale Säuberung“ im Fokus. Sozialverbände kritisierten die Regierung dafür scharf.
Finnland: Wohnraum für (fast) alle
Finnland geht mit gutem Beispiel voran, wenn es darum geht, Wohnungs- und Obdachlosigkeit nachhaltig und effektiv zu begegnen.
Seit 2008 gilt dort die Policy: Housing First. Das Konzept geht davon aus, dass Wohnen ein grundlegendes Menschenrecht ist. Auch die EU empfiehlt „Housing First“ als Maßnahme zur Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Finnland ist bisher das einzige Land, das das Problem fast gelöst hat. Nur noch etwa 3600 Menschen sind in Finnland wohnungslos, bis 2027 soll mindestens die Langzeitwohnungslosigkeit komplett verschwunden sein. In der Hauptstadt Helsinki sogar bis 2025.
Statt sich erst als „wohnfähig“ und „integrationswillig“ zu müssen, erhalten Obdach- und Wohnungslose bedingungslos eine Wohnung in einem Sozialwohnungskomplex. Dort können sie Hilfsangebote annehmen (zum Beispiel Sucht- oder Finanzberatung), haben Zugang zu medizinischer und psychologischer Betreuung – und, ganz wichtig: eine Gemeinschaft, in der sie akzeptiert und gesehen werden. Das funktioniert. Verschiedene Studien belegen den Erfolg von „Housing First“ in Finnland. Zwischen 75 und 90 Prozent schaffen es, den Wohnraum dauerhaft zu halten.
Finnlands Lösung ist nicht perfekt – aber ein Anfang
Mehr Beiträge über positive, effektive Ansätze für eine gerechtere Gesellschaft liest Du hier:
Doch bei allen positiven Aspekten ist auch das finnische Konzept nicht hunderprozentig ausgereift. Denn nur wer offiziell Anspruch auf Sozialleistungen hat, kann einen Platz in einem „Housing First“-Wohnprojekt bekommen. Obdachlose EU-Bürger*innen oder Illegalisierte schließt das aus. Sie müssen in Notunterkünften untergebracht werden.
Aber auch, wenn das System nicht perfekt ist: Es ist ein Ansatz, der vielen anderen europäischen Konzepten etwas voraus hat.
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