Feminismus Menschenrechte
„Wenn SPD und Grüne wirklich die Legalisierung von Abtreibung wollen, dann ist es an ihnen, nun auch zu handeln.“
Der Ampel-Regierung bleibt nicht mal mehr ein Jahr, um Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren. Ein Interview mit dem Aktionsbündnis „Abtreibungen Legalisieren – jetzt“.
Hier im Campact-Blog haben wir schon oft über das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung für Frauen geschrieben. Im April kommentierte ich die Ergebnisse der Expert*innen-Kommission zur Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen und stellte fest, dass die Entkriminalisierung von Abtreibungen nur noch in diesem letzten Jahr der Ampel-Regierung möglich ist.
Inzwischen setzt sich ein Bündnis von Organisationen für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland ein. Im Interview erfahrt ihr, wie das Aktionsbündnis „Abtreibungen Legalisieren – jetzt“! politische Entscheidungsträger:innen dazu bringen will, das Recht über den eigenen Körper auch für Frauen ins Gesetz zu schreiben.
Hallo Jascha, hallo Leonie, vielen Dank, dass Ihr Euch Zeit für das Interview nehmt! Ihr gehört zum Bündnis „Abtreibungen legalisieren – jetzt“. Ihr sagt, dass 75 Prozent der Menschen in Deutschland dafür sind, dass Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des Strafgesetzbuches geregelt werden und wollt diese Forderung politisch durchsetzen. Was sind darüber hinaus Eure Forderungen?
Jascha: Abtreibungen sind in Deutschland aktuell eine Straftat. Die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch ist deswegen ein zwingender Schritt auf dem Weg zu reproduktiver Selbstbestimmung. Doch reproduktive Selbstbestimmung braucht noch mehr. Sie ist erst dann vollständig erreicht, wenn schwangere Personen ihre Entscheidung unter den für sie bestmöglichen Umständen treffen können. Darum fordern wir zudem ein Recht auf freiwillige Beratung statt der derzeitigen Beratungspflicht sowie die vollständige Kostenübernahme durch die Krankenkassen für alle. Abtreibungen müssen Bestandteil der medizinischen Grundversorgung werden, unabhängig vom Versicherungsstatus.
Viele Leser*innen denken jetzt wahrscheinlich: „Abtreibungen sind in Deutschland strafbar?!“ Es geht doch niemand dafür ins Gefängnis, oder?
Leonie: Es muss zwar niemand für eine Abtreibung ins Gefängnis, aber die Kriminalisierung erzeugt einen extrem hohen moralischen Druck und eine Stigmatisierung der ungewollt schwangeren Person. Es suggeriert ihr: „Was Du tust, ist falsch und eine Straftat!“.
Organisationen wie Women on Web, die sich weltweit für sicheren Zugang zu Abtreibungen und Verhütungsmitteln engagieren, berichten von hohen Hürden für Abtreibungen in Deutschland. Deshalb nutzen ungewollt Schwangere auch hierzulande Angebote wie die Zusendung von Abtreibungsmedikamenten, um anonym und kostengünstig abzutreiben.
Jascha: Die Kriminalisierung zieht einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich: Beispielsweise lernen in der medizinischen Ausbildung selbst Gynäkolog*innen bis heute nicht die Durchführung von Abtreibungen. Und Krankenkassen übernehmen keine Kosten für eine Abtreibung, weil sie keine Straftat finanzieren können.
Teil Eures Bündnisses sind auch die Doctors for Choice, eine Ärzt*innen-Vereinigung, die sich aus medizinischer Sicht für die Entkriminalisierung von Abtreibungen einsetzen. Was versprechen sich Ärzt*innen von einer Legalisierung?
Jascha: Mediziner*innen erzählen, wie schwierig es ist, wenn ein Bestandteil der eigenen Arbeit – nämlich Abtreibungen vorzunehmen – nur unter bestimmten Bedingungen straffrei ist. Eine Legalisierung würde damit Ärzt*innen vor inneren Konflikten bewahren. Sie könnten ihre Arbeit besser an den Bedürfnissen ihrer Patient*innen ausrichten.
Die Ampel-Koalition hatte schon im Koalitionsvertrag vereinbart, dass Schwangerschaftsabbrüche Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung werden sollten. Ist da was passiert?
Leonie: 2027 soll durch die Novellierung der ärztlichen Approbationsordnung der Schwangerschaftsabbruch seinen Weg ins Medizinstudium finden. Aber 2027 ist noch lange hin, das bringt den aktuellen Studierenden nichts – und richtig glauben können wir es erst, wenn es wirklich festgelegt ist. Das praktische Erlernen von Abtreibungen ist aber auch weiterhin kein selbstverständlicher Teil der fachärztlichen Ausbildung: Wenn an vielen Kliniken keine Abtreibungen vorgenommen werden, lernen die angehenden Gynäkolog*innen diese nicht.
Wie schwer es sein kann, in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, könnt ihr hier nachlesen:
Die Hochschulgruppen „Medical Students for Choice“ fordern deshalb sowohl Informationen über Abtreibungen in der Theorie, als auch das Üben einer wertfreien Beratung von ungewollt Schwangeren. Aktuell stopfen diese Studierenden die Lücken durch selbstorganisierte Vorlesungen und sogenannte „Papaya Workshops“ bei denen die Studierenden an einer Papaya die Absaugmethode (Vakuumaspiration), mit erfahrenen Gynäkolog*innen üben können.
Wenn Abtreibungen sowohl im Studium als auch in der fachärztlichen Ausbildung für (angehende) Mediziner*innen umschifft, als optionaler oder als primär ethisch zu verhandelnder Gegenstand betrachtet werden, hat das starke Auswirkungen: Es fehlt an gut ausgebildeten Fachpersonen, die Abtreibungen durchführen. Und es verhindert, dass Abtreibungen als das angesehen werden, was sie sind: Gesundheitsleistungen für Menschen in einer Notlage.
Ihr wollt auch die Beratungspflicht abschaffen und stattdessen in ein Beratungsangebot umwandeln. Ist die Beratungspflicht nicht auch etwas Gutes? Ein Schwangerschaftsabbruch ist ja eine große Entscheidung.
Leonie: Viele Berater*innen berichten aus der Praxis, dass manche Menschen mit Fragen und Bedarf zum Austausch in die Beratung kommen, viele ihre Entscheidung aber bereits vorher getroffen haben. Sie können sich aktuell kein Kind oder kein weiteres Kind vorstellen. Dafür brauchen und wollen sie dann eigentlich keine Beratung.
Jascha: Ehrlich gesagt: Eine verpflichtende Beratung ist keine Hilfe, sondern entmündigt die ungewollt schwangere Person. Sie unterstellt ihr, dass sie diese Entscheidung nicht selbst treffen kann. Damit die Beratung wirklich ein Unterstützungsangebot ist, braucht es statt der Pflicht ein Recht auf freiwillige Beratung. Diese muss ergebnisoffen sein, was nach derzeitigem Recht nicht der Fall ist. Und sie muss allen Menschen offenstehen, indem sie weiterhin kostenlos, aber auch in verschiedenen Sprachen und barrierearm zugänglich in der Nähe vom Wohnort angeboten wird.
Manche Leser*innen denken jetzt vielleicht: „Die Gesellschaft ist aktuell ohnehin schon gespalten. Brauchen wir gerade noch einen ethischen Großkonflikt?“
Jascha: Die Erzählung eines ethischen Großkonflikts halten wir für einen Mythos, der von Abtreibungsgegner*innen starkgemacht und genutzt wird. Erst im April dieses Jahres hat eine Studie des Bundesfamilienministeriums gezeigt, dass eine überwältigende Mehrheit für die Legalisierung von Abtreibung ist, nämlich 75 Prozent der Menschen in Deutschland.
Leonie: Und abgesehen davon: Menschenrechte sind nicht verhandelbar, sie gelten unabhängig von Wahlergebnissen und Stimmungsbarometern. Das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht.
Ihr sagt, dass die Bundesregierung die Empfehlungen der Expert*innen-Kommission umsetzen soll – die sind jedoch schwammig, was Schwangerschaftsabbrüche zwischen der 12. und 24. Woche betrifft, wenn der Embryo aber allein noch nicht lebensfähig ist. Wie steht ihr dazu?
Vera Kuchler hat im Juli die Europäische Bürger:innen-Initiative „My Body my Choice“ vorgestellt:
Leonie: Wir sind für die ersatzlose Streichung von § 218 aus dem Strafgesetzbuch. Es wird immer wieder das Bild von Schwangeren gezeichnet, die sich kurz vor der Geburt spontan für eine Abtreibung entscheiden würden. Dieses Bild beruht nicht nur auf der paternalistischen Vorstellung, dass FLINTA-Personen ohne gesetzliche Vorgaben irrational handeln würden. Es entspricht auch nicht der Realität. Schauen wir zum Beispiel nach Kanada: Dort sind Abtreibungen seit 1988 vollumfänglich legal. Die Legalisierung hat zu keinerlei Anstieg von Spätabtreibungen geführt. Vielmehr belegen Statistiken, dass ungefähr 90 Prozent aller Abtreibungen innerhalb der ersten zwölf Wochen stattfinden.
Jascha: Es sind aktuell vielmehr die restriktiven Regelungen mit vielen Pflichtterminen und zwingenden Bedenkfristen, welche der ungewollt schwangeren Person zahlreiche Hürden stellen und so zu einer Verzögerung der Abtreibung führen. Die Legalisierung führt vor allem zu einem umfassenden und sicheren Zugang zu grundlegenden Gesundheitsleistungen.
Nachdem die Kommission ihren Bericht vorgestellt hatte, waren alle Regierungsmitglieder äußerst zurückhaltend mit der Umsetzung der Kommissionsempfehlungen. Inzwischen haben sich die Grüne– und die SPD-Bundestagsfraktion für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ausgesprochen. Wie ist jetzt der Prozess und wo seht ihr die größten Möglichkeiten, Eure Forderung durchzusetzen?
Jascha: Damit ein parlamentarischer Prozess beginnen kann, braucht es einen Gesetzesentwurf. SPD und Grüne haben sich endlich für eine Legalisierung ausgesprochen. Das ist das Mindeste, was Parteien machen können, die zur letzten Bundestagswahl noch mit dem Versprechen einer Legalisierung um Wähler*innenstimmen geworben haben. Aktuell bleiben es jedoch Lippenbekenntnisse. Wenn SPD und Grüne wirklich die Legalisierung von Abtreibung wollen, dann ist es an ihnen nun auch zu handeln.
Leonie: Es wäre höchste Zeit, dass auch die FDP für das einsteht, was sie im Namen trägt: die Freiheit. Dazu zählt nämlich auch die Freiheit ungewollt schwangerer Personen selbstbestimmt über den eigenen Körper zu entscheiden.
Außerdem ist es jetzt besonders dringend, dass Abtreibungen legalisiert werden. Das Erstarken der rechten Parteien bedroht die reproduktiven Rechte. Endlich Abtreibungen zu entkriminalisieren, würde die reproduktiven Rechte dagegen stärken, absichern und ausweiten.
Eure Kampagne geht zwölf Wochen lang und ist jetzt schon in der Fünften. Wie können Leser*innen noch einsteigen und mitmachen?
Leonie: Mitmachen ist jederzeit möglich! Es gibt jede Woche verschiedene Aktionen. In dieser Woche rufen wir alle dazu auf, uns ihren persönlichen Grund für die Legalisierung von Abtreibung mitzuteilen. Wir posten sie dann auf unseren Social-Media-Kanälen. In den kommenden Wochen rufen wir dann zum Beispiel zum Tragen eines grünen Tuchs als Hommage an den feministischen Kampf für das Recht auf Abtreibung in Argentinien auf, zu Aktionen vor den Wahlkreisbüros der Bundestagsabgeordneten auf und vieles mehr.
Wir freuen uns über alle Menschen, die sich mit uns für die Legalisierung von Abtreibungen stark machen!
Höhepunkt der Kampagne sollen Großdemos am 7. Dezember in Karlsruhe und Berlin werden. Was soll da passieren?
Jascha: Bei den Demos in Berlin und Karlsruhe wollen wir unsere Forderung nach der Legalisierung von Abtreibung gemeinsam auf die Straße tragen. Das machen wir nicht allein als Bündnis, sondern gemeinsam mit ganz vielen anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen. Die Demos sollen der Regierung klar machen, dass sie nun endlich handeln muss. Denn: „Wir sind viele. Wir sind mehr. Wir sind die 75 %“! Damit uns das gelingt, ist es natürlich wichtig, dass nicht nur Berliner*innen und Karlsruher*innen auf die Straße gehen. Aus vielen Städten werden deshalb Anreisen per Bus oder Bahn organisiert. Alle Infos dazu gibt es zeitnah auf unserer Website.
Wir freuen uns natürlich auch, wenn Menschen Lust haben, selbst eine gemeinsame Anreise aus ihren Wohnorten zu organisieren. Wie das funktioniert, findet man in Woche 8 unseres Aktionskoffers.
Leonie: Die Demos sind aber nicht nur ein Ort, um der Regierung Druck zu machen. Sie sind auch ein Ort für uns alle, um uns Kraft zu geben, uns zu zeigen, dass wir gemeinsam kämpfen und um uns zu feiern – für die letzten zwölf Wochen der Kampagne und für jeden anderen Tag, an dem wir im Großen und Kleinen für das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung einstehen.