LGBTQIA* Ostdeutschland Rechtsextremismus
„Stabile“ Bürger
Hass gegen queere Menschen wächst: Das Verbot der Regenbogenflagge und der Rücktritt des schwulen Oberbürgermeisters Silvio Witt in Neubrandenburg zeigt, wie der Einfluss der AfD und rechtsextremer Gruppen das politische Klima verschärft.
Tim Großmüller hat es bundesweit in die Presse geschafft. Der Politik-Neuling und Fitnessstudio-Betreiber sitzt als fraktionsloser Ratsherr in der Stadtvertretung der mecklenburgischen 60.000-Einwohner-Stadt Neubrandenburg. Auf seinen Antrag hin hat die Stadtvertretung Mitte Oktober beschlossen, dass am Bahnhof der Stadt künftig keine Regenbogenfahne mehr wehen darf.
AfD und BSW machen in Neubrandenburg gemeinsame Sache
Die Begründung: Man wolle verhindern, dass die Fahne – wie in der Vergangenheit bereits mehrmals geschehen – gestohlen und durch nationalsozialistische Flaggen ersetzt werde. Das Argument überzeugte nicht nur die gesamte AfD-Fraktion; der Antrag wurde auch mit Stimmen von BSW-Mitgliedern verabschiedet.
Auf der Facebook-Seite „Stabile Bürger Neubrandenburg“ feiern seine Anhänger Großmüller. „Na endlich! Ging mir schon lange auf n Sack !!! Brauch kein Mensch den dreck !“, schreibt Daniel. „Für eine Minderheit verschwindet ihr geliebtes der Mehrheit aufgedrücktes Lebenssymbol!“, findet Marco – und Andreas rutscht ein „Deutschland über alles“ heraus. Wie problematisch solche Aussprüche und mit wem sie assoziiert sind, hat bereits Blog-Autor Andreas Kemper untersucht.
Schwuler Oberbürgermeister tritt zurück
Einen Tag nach der Entscheidung verkündete Oberbürgermeister Silvio Witt seinen Rücktritt. Er wäre eigentlich noch bis 2029 Stadtoberhaupt, will sein Amt aber nun zum 1. Mai 2025 niederlegen. Witt ist schwul und war in den letzten Jahren immer wieder Hass und Hetze ausgesetzt; oft ging es dabei um seine Homosexualität.
In einem Interview mit der FAZ sagte Witt ein paar Tage später: „Ich bin kein schwuler Oberbürgermeister. Sondern ich bin ein Oberbürgermeister, der schwul ist. Ich führe das Amt so aus, wie man das als vereidigter Kommunalbeamter tun muss. […] Die Rechten haben aber stets das Narrativ bedient, ich hätte eine homosexuelle Agenda, sei ein Regenbogenbürgermeister.“
Man nannte mich das Mädchen, den Kleinen, das Männchen – und das alles im höchsten Gremium der Stadt, in der Stadtvertretung.
Neubrandenburgs Oberbürgermeister Silvio Witt im FAZ-Interview
Mittlerweile hat auch Großmüller zugegeben, was er wirklich bezwecken wollte. „Mir ging es ganz klar darum, den Politiker Silvio Witt weg aus dem Amt zu bekommen“, gab er in einem Interview mit dem regionalen Nordkurier zu. Anscheinend selbst überrascht vom medialen Interesse an seiner Aktion, schlägt er jetzt einen Kompromiss vor und will Regenbogen- und Deutschlandfahne wechselnd hissen – nur um sich kurz darauf im Interview homophob zum Neubrandenburger CSD zu äußern. Das klingt also eher nach taktischer Schadensbegrenzung als nach Einsicht.
Neues Feindbild: Queere Menschen
Die Ereignisse in Neubrandenburg machen deutlich, wie sich das politische Klima in Deutschland gerade verändert. Angriffe auf Minderheiten nehmen zu – und Demokrat*innen wie Silvio Witt ziehen sich aus der Politik zurück.
Der Regenbogenfahnen-Eklat von Neubrandenburg ist kein Einzelfall, im Gegenteil. Neben Menschen mit Migrationsgeschichte und Geflüchteten hat die extreme Rechte längst queere Menschen als ein neues Feindbild. Im Sommer häuften sich rechtsextreme Angriffe auf CSDs im ganzen Land; im August entwendeten Rechtsextreme die Regenbogenfahne vor einer Essener Kirche; im Oktober verschwand die Pride-Flagge der Katholischen Hochschulgemeinde in Dortmund. Auch Drag-Lesungen für Kinder sind den Rechtsextremen ein Dorn im Auge; vor allem die AfD hetzt immer wieder dagegen.
Die AfD verändert das politische Klima
In Neubrandenburg zeigt sich der Homohass nun im politischen Alltag. Das alles ist eng verknüpft mit dem Aufstieg der AfD. „Auf Worte folgen Taten“ – so abgegriffen dieser Spruch klingt, so wahr ist er doch. Die AfD, eine zutiefst homofeindliche Partei, hat in den letzten Jahren Hass gegen queere Menschen in unsere Parlamente getragen. Das wiederum ermutigt ihre Anhänger*innen, offensiv queerfeindlich aufzutreten und auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken.
Zwar gibt es auch Gegenprotest – am Neubrandenburger Bahnhofsgebäude prangten zwischenzeitlich aufgesprühte Regenbogenfahnen, es gab eine spontane Mahnwache, mehr als 1.000 Menschen zogen demonstrierend durch die Stadt und die Kooperative Gesamtschule Stella hisste eine Flagge –, doch die traurige Erkenntnis bleibt: Gewalt und Hass gegen sichtbares queeres Leben nimmt zu. Nicht nur in Neubrandenburg.