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Immer wieder wird der Schmerz so greifbar, dass einem fast die Luft wegbleibt: Wenn Nicu und Iulia Păun ein riesiges Mausoleum bauen, um der Trauer um ihren toten Sohn Vili-Viorel einen Ort zu geben. Wenn Çetin Gültekin seiner Familie beim Umzug hilft, weil seine Mutter es nicht mehr in den Räumen aushält, in denen sein Bruder bis zu seiner Ermordung lebte. Wenn Sedat Gürbüz‘ Mutter das Handy ihres Sohnes jeden Tag wieder auflädt, um es nach seinem Tod nicht ausgehen zu lassen. In der Dokumentation „Das deutsche Volk“ des deutsch-polnischen Regisseurs Marcin Wierzchowski stehen die Hinterbliebenen der Opfer im Mittelpunkt – und ihr Kampf um das Gedenken an ihre ermordeten Kinder, Geschwister und Freund*innen.

Trauer und Wut

Der Film begleitet die Familien und Freund*innen der Ermordeten über Jahre und zeigt auch, wie die Trauer in Wut umschlägt. Wie Familien, die sich eine Existenz in Deutschland aufgebaut haben, erkennen, dass ihre Kinder als ‚Opfer zweiter Klasse‘ gelten. Medien und Politik benennen die Morde zwar als rassistisch motiviert, doch Polizei und Landespolitik begegnen den Angehörigen mit Empathielosigkeit und Überforderung.

Immer wieder zeigt Wierzchowski, wie die Versäumnisse der Ermittlungsbehörden die Trauernden belasten: Ein Freund der Getöteten berichtet, wie die Polizei ihn nach der Tat, die er selbst knapp überlebte, zu einem langen Fußmarsch zur nächsten Wache schickt. Familien bleiben stundenlang im Unklaren, ob ihre Kinder zu den Opfern gehören. Ein angeschossener Überlebender erzählt, wie Sanitäter ihn als Schutzschild benutzten, aus Angst, der Täter könne zurückkehren. Diese Szenen sind schwer zu ertragen, besonders im Kontrast zu den Aufnahmen hessischer Behörden, die Fehler leugnen und sich hinter Worthülsen verstecken.

Das große Wegducken

Erschreckend ist nicht nur der herablassende Umgang der Behörden mit den Angehörigen, sondern auch die Missachtung der strukturellen Fehler, die das Attentat erst möglich gemacht haben: ein verschlossener Notausgang, rechtsextreme Einstellungen bei SEK-Kräften, ins Leere laufende Notrufe, ein Täter, der nach den Morden unbehelligt nach Hause fuhr, wo die Polizei erst eine Stunde später eintraf. Man kommt nicht daran vorbei, sich zu fragen: Wäre das alles auch so passiert, wären die Opfer weiß und der Tatort ein schickes Bistro statt Shisha-Bars gewesen? Wierzchowski gibt darauf keine direkten Antworten. „Das deutsche Volk“ verzichtet weitgehend auf einen Kommentator; nur an zwei Stellen liefern Erklärtafeln ein wenig Kontext. 

Der Regisseur bleibt bei den Hinterbliebenen und ihrem Erleben. Deren Perspektive zeigt, dass die Ermordeten nicht als ‚Kinder der Stadt Hanau‘ gesehen werden. Die Mutter von Sedat Gürbüz sagt: „Deutschland hat mein Kind aus dieser Welt ausradiert. Ich erinnere mich an Wahlplakate mit ‚Ausländer raus‘. Was haben wir euch getan? Warum hasst ihr uns?“ Sie sieht die Schuld für den Tod ihres Sohnes auch klar bei denen, die Rassismus schüren oder schweigend hinnehmen.

Geteilte Trauer

Die Familien der Opfer selbst kommen durch die Versäumnisse der Landespolitik in die absurde Lage, neben ihrer Trauer auch noch Ermittlungs- und Gedenkarbeit zu übernehmen. Sie beauftragen ein Gutachten, um Behördenfehler aufzudecken, kämpfen für ein Denkmal und geben Interviews, um die Landespolitik in die Pflicht zu nehmen. Der Film zeigt auch, wie diese unfreiwillige, gemeinsame Aufgabe die Trauernden zusammenschweißt. Aus einigen der Eltern, Geschwistern und Freund*innen der Opfer entsteht eine Gemeinschaft, die für das Gedenken an ihre Liebsten kämpft. 

Wierzchowski fängt ein, wie aus dieser Schicksalsgemeinschaft Kraft für das Weiterleben entsteht und die private Trauer in einen Kampf um das öffentliche Bewusstsein mündet. Ein Kampf gegen das Vergessen, gegen die Rückkehr zu einer Normalität, in der immer wieder Menschen rassistisch angegriffen werden.  Der Titel „Das deutsche Volk“ fragt: Wer gehört zu diesem Volk? Zählen manche Opfer mehr als andere? Indem der Regisseur nah bei den Angehörigen bleibt, wird deutlich: Nicht alle Mitglieder dieser Gesellschaft werden gleich behandelt. Doch die Trauer um einen geliebten Menschen ist universell. 

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Autor*innen

Victoria Gulde ist seit 2018 Campaignerin bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechtsextremismus setzt sie sich gegen die Normalisierung rechten Gedankenguts ein. Sie hat Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Internationale Beziehungen studiert. Für den Campact-Blog schreibt sie über Gedenktage und die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur. Alle Beiträge

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