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„Wir können uns dieses System nicht mehr leisten“, sagte Friedrich Merz im August auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen CDU – und bereitete seine Partei damit auf einen Herbst vor, in dem die Debatte über Kürzungen im Sozialstaat kaum Grenzen kennt. Doch immer, wenn Politiker*innen Lücken in sozialstaatliche Sicherungssysteme reißen, fallen die Aufgaben auf Frauen zurück: auf Mütter, Töchter, Schwiegertöchter und Schwestern. 

Frauen springen ein, wo der Staat versagt

Frauen springen ein, wo der Staat versagt – und zahlen dafür einen hohen Preis. Denn in der Zeit, in der sie sich um Angehörige kümmern, fehlt ihnen Zeit für sich selbst: für Erholung, Sport oder um in der Berufswelt voranzukommen. Die Folgen sind bekannt: Frauen arbeiten 18 Prozent weniger Stunden in der Erwerbsarbeit, verdienen 16 Prozent weniger, leisten 43 Prozent mehr Sorgearbeit und haben 14 Prozent weniger Freizeit als Männer. Wenn die Union jetzt im Sozialstaat kürzt, gefährdet sie die Fortschritte in der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen.

Sozialstaatliche Errungenschaften bedeuten Emanzipation

Der deutsche Sozialstaat ist eine Errungenschaft der Arbeiter*innen-Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Unter dem Druck der erstarkenden sozialistischen Bewegung führte der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen ein, um Menschen vor Armut und Schicksalsschlägen zu schützen. Später kamen die Arbeitslosenversicherung (1927) und die Pflegeversicherung (1995) hinzu. 

Neben dem Rechtsstaat oder der Demokratie ist das Sozialstaatsprinzip eines der sieben verfassungsgebenden Staatsziele der Bundesrepublik.
Es besagt, dass die Bundesrepublik ein „sozialer“ Staat ist und verpflichtet die Politik, wirtschaftliche Rahmenbedingungen für Pflege-, Renten, Arbeitslosen-, Kranken- und Unfallversicherung zu sichern. Auch die Jugend-, Kinder-, Familien-, Inklusions- und Geschlechterpolitik sowie die Grundsicherung und Armutsvermeidung fallen in den Bereich des Sozialstaats. 

Wie der Sozialstaat ausgestaltet ist und welche Leistungen er erbringt, ist eng mit der Situation von Frauen verknüpft. Denn der Sozialstaat übernimmt heute Aufgaben, die lange Zeit von Frauen oder karitativen Einrichtungen wie Armenhäusern geleistet wurden. Die Entwicklung des Sozialstaats, insbesondere die Pflegeversicherung und die Kinderbetreuung in Kitas, hat die großen Emanzipationsschritte des letzten Jahrhunderts für Frauen erst ermöglicht. 

Noch in den 1960er- und 70er-Jahren war es in Westdeutschland verpönt, als Frau arbeiten zu gehen, statt sich rund um die Uhr um Kinder und Haushalt zu kümmern. Inzwischen gibt es einen bundesweiten Anspruch auf Kindergartenplätze – eine echte Errungenschaft für die Gleichberechtigung. Das ist aber nicht nur im Interesse der Frauen. Auch der Staat profitiert: Ohne Frauen auf dem Arbeitsmarkt wäre die Wirtschaft nicht konkurrenzfähig. 

Der Sozialstaat ist unter Beschuss

Genau diese Gewinne aber werden aktuell infrage gestellt – und Friedrich Merz ist nicht der Einzige. Auch Karin Prien, Bundesministerin für Bildung, Familie, Senioren, Frauen(!) und Jugend (CDU), hinterfragte kürzlich kostenfreie Kitas in einigen Bundesländern. Sie behauptete, der „sehr hohe Anspruch“ an Betreuung und das „Mindset“ junger Paare wären Gründe dafür, dass sie keine Kinder bekommen wollten. Dabei legen Studien nahe, dass die Corona-Politik mit Kita- und Schulschließungen viele Frauen dazu brachte, Kinderwünsche aufzuschieben oder ganz aufzugeben.

Priens Statement wirkt umso absurder, da die Bundesregierung gleichzeitig mehr Frauen in die Erwerbsarbeit drängen will, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Dabei ist die Situation in vielen Kitas schon jetzt desolat: Wegen Personalengpässen fällt die Betreuung so oft aus, dass Eltern sich fragen, wie sie überhaupt arbeiten gehen sollen

Sorgearbeit bleibt an Frauen hängen

Entfällt die Betreuung staatlicherseits, dann fallen Mütter und Väter in ihre geschlechtliche Sozialisation zurück: Die Sorgearbeit bleibt meistens an den Frauen hängen. Laut einer Analyse der BARMER-Krankenkasse betreuten Mütter ihre kranken Kinder im letzten Jahr dreimal häufiger als Väter. Schlechtere Karriereoptionen und geringere Gehälter sind die Folge. Die Infragestellung von Leistungen wie Elterngeld oder Kinderbetreuung verschärft diese patriarchale Rollenverteilung. 

Auch die Anfang des Monats in der Union diskutierte Abschaffung des Pflegegrad 1 geht auf Kosten von Frauen. Mit dieser ersten Pflegestufe können monatlich 131 Euro für pflegerische und unterstützende Tätigkeiten im Haushalt erstattet werden. Die Leistung unterstützt vor allem Frauen – denn meist sind sie es, die ihre alternden Ehemänner, Väter oder Schwiegerväter pflegen. Andere leben im Alter allein und in Armut und sind so auf die Unterstützungsleistungen angewiesen. Wird der Pflegegrad 1 jetzt eingeschränkt, lässt der Staat diese Frauen im Stich. Auch diese Debatte würde wohl kaum geführt werden, wenn vor allem Männer betroffen wären.

Altersarmut von Frauen wird vorprogrammiert

Merz will mit seinem Kabinett die sozialstaatlichen Leistungen kürzen. Die Folge: Frauen übernehmen mehr Sorgearbeit und ziehen sich aus der Erwerbsarbeit zurück. Dieser Effekt war schon in der Corona-Pandemie zu beobachten, als Frauen mehr Betreuungsarbeit für Kinder aufwendeten und daraufhin viele ihre Arbeitsstunden reduzierten oder den Job wechselten

Besonders perfide ist, dass Merz im selben Moment mehr Eigenverantwortung fordert, um Kranken-, Rente- und Pflegeversicherung aufrechterhalten zu können. Übersetzt bedeutet das: Die staatliche Sicherung wird zurückgefahren. Um im Alter ein gutes Auskommen zu haben, müssen Menschen zusätzlich private Pflege- und Rentenversicherungen abschließen. Das wird aber gerade für Frauen, die aufgrund der steigenden familiären Sorgearbeit weniger Lohnarbeit nachgehen und so weniger verdienen, unmöglich. Altersarmut ist damit vorprogrammiert. 

Diese Kürzungen und Re-Tradionalisierungen sind nicht nur ethisch fragwürdig, sondern auch wirtschaftspolitisch unerklärbar. Denn aufgrund des demografischen Wandels und dem Rückgang an qualifizierten Fachkräften fordern Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften mehr Frauen in der Erwerbsarbeit. Der Staat profitiert auch, wenn Kinder und Jugendliche durch gute Betreuung besser ausgebildet werden. Frankreich zeigt, wie es geht: Mit guter Kinderbetreuung und steuerlichen Vorteilen für Familien ist die Teilzeitquote von Frauen dort nur halb so hoch wie in Deutschland.

Frauen können sich Merz nicht leisten

In Deutschland meinen Friedrich Merz und sein Kabinett, wir könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten. Doch das zeigt nur, wie alt, männlich und privilegiert sein Kabinett ist. Kürzungen im Sozialbereich sind für den Staat eine „lukrative Rechnung“, weil sie sich darauf verlassen, dass Frauen die Lücken füllen. Doch diese Politik treibt „Frauen als Gruppe ans Limit der Erschöpfung“, fasst Astrid Zimmermann im Jacobin-Magazin zusammen.

Wenn die Koalition Ernst macht mit den Einschnitten bei Grundsicherung, Kinderbetreuung und Pflegeversicherung, bleibt Frauen nur eine Schlussfolgerung: Wir können uns Friedrich Merz und seine Union nicht mehr leisten.

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Autor*innen

Inken Behrmann ist für Klimaschutz und Feminismus unterwegs. Nachdem sie als Campaignerin bei Campact und in der Klimabewegung Kampagnen für Klimaschutz organisiert hat, promoviert sie aktuell an der Universität Bremen. Für den Campact-Blog schreibt sie als Gast-Autorin Texte gegen das Patriarchat. Alle Beiträge

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