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Ich schwamm um mein Leben, ich schwamm bei den Olympischen Spielen – jetzt möchte ich Würde für alle Flüchtlinge

Mein Name ist Yusra. Ja, ich bin das Mädchen, das zunächst um sein Leben und dann bei den Olympischen Spielen schwamm. Diese Geschichte hast du sicherlich schon gehört. Jetzt möchte ich Dir eine andere Geschichte erzählen.

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Dabei geht es um meinen anderen Namen, meine andere Identität. Mein anderer Name ist Flüchtling. So nennt man mich zumindest. Mich und die 21 Millionen, die aufgrund von Verfolgung, Krieg und Gewalt fliehen mussten.

Also, wer ist dieser Flüchtling? Nun, ich war einmal wie Du. Ich hatte ein Zuhause, ich hatte Wurzeln, ich wusste, wo ich hingehörte. Genau wie Du lebte ich meinen Alltag, hatte Hoffnungen, Leidenschaften und Probleme. Dann kam der Krieg und alles wurde anders. Der Krieg gab mir einen neuen Namen, eine neue Rolle, eine neue Identität: Flüchtling!

Verlasse dein Haus, Verwandte, Freunde und lauf!

Plötzlich hieß es flüchten, alles hinter sich lassen, um sein Leben laufen. Verlasse dein Haus, Verwandte, Freunde und lauf! Erst nachdem ich die Grenze überquert hatte, wurde mir bewusst, dass ich viel mehr als nur mein Haus und meine gesamten Besitztümer verloren hatte. Ich hatte meine Nationalität, meine Identität, meinen Namen verloren. Ich war jetzt ein Flüchtling.

Niemand von uns hätte sich auf diese Reise vorbereiten können. Die verzweifelten Gebete auf dem Meer, die lange Reise, die Demütigung am Stacheldraht. Trotz aller Schwierigkeiten wusste jeder, dass es keinen Weg zurück gab. Wir hatten bereits alles verloren und es gab nur die eine Wahl – laufen, für Schutz und für Frieden.

Und dann endete die Reise ganz plötzlich. Wir waren in Sicherheit. Irgendwo, in einem Zelt, einem Lager, einer Unterkunft begann die nächste Etappe – das lange Warten. Das war es, was uns fertig machte. Wir hatten nichts zu tun, wir konnten nur unsere Verluste beweinen. Jetzt wussten wir, was es bedeutete, Flüchtling zu sein.

Hier waren wir also in einem neuen Leben und keiner wusste, wie lange wir es leben würden. Im Durchschnitt leben Flüchtlinge 20 Jahre im Exil und sind nie irgendwo wirklich zugehörig. Wir warten auf das Ende des Wahnsinns und warten auf den Moment, endlich nach Hause zu können. Es ist ein halbes Leben, verloren, nichts als Fremde in einem fremden Land.

Wir kämpfen weiter um unser Leben

Wir kämpfen weiter um unser Leben. Wir kämpfen um ein Studium, um Arbeit, um das Erlernen einer neuen Sprache, um Integration. Allzu oft sind die Hindernisse zu hoch, die Chancen gegen uns. Wir wissen, dass wir das Beste aus dieser seltsamen und unerwarteten Wende in unserem Leben machen müssen. Das Beste aus der Situation als Flüchtling.

Das ist unser Kampf. Es ist jedoch auch Deiner. Viele von euch wissen bereits, dass sehr viel mehr auf dem Spiel steht. Für meinen Teil werde ich in den kommenden Monaten in eine neue Rolle schlüpfen. Ich habe eine bedeutende Botschaft zu verbreiten. Die Flüchtlinge werden nicht verschwinden, es werden mehr werden. Wenn die Menschheit diese Herausforderung bewältigen will, dann müsst ihr uns kennen lernen, so, wie wir wirklich sind.

Manchmal zwang ein schreckliches Bild Dich, unser Leiden anzusehen

Einige von Euch haben das aus den Augen verloren. Als unsere Todesfälle auf See zum Normalfall wurden, gehörte unser Elend an den Grenzen zur Tagesordnung. Wir wurden ausgeblendet, wurden hinter verschlossene Türen verbannt. Manchmal zwang ein wirklich schreckliches Bild Dich, unser Leiden anzusehen. Ein totes Kleinkind, das mit dem Gesicht im Sand lag, blutverschmierte Kindergesichter in einem Krankenwagen. Doch dann ging das Leben weiter. Viele vergaßen uns einfach.

Das Schweigen räumte anderen Stimmen Raum ein. Diejenigen, die uns fürchteten und hassten weil wir anders aussahen, eine andere Sprache sprachen, anders glaubten. Diejenigen mit der größten Angst haben am lautesten geschrien. Sie verbreiteten die alten Lügen über uns. Sie sagten, wir hätten dieses Land ausgewählt weil wir gierig und gefährlich seien, wir seien Verbrecher und bedrohen Ihre Lebensart.

Die Angst kroch hoch und viele von euch begannen zu zweifeln. Es dauerte nicht lange und die physikalischen und emotionalen Grenzen und Barrieren waren überall vorhanden. „Flüchtling“ wurde zur Beleidigung, zum verletzenden und demütigenden Wort.

Es ist keine Schande ein Flüchtling zu sein

Wenn wir uns jedoch an unsere wahre Identität erinnern, ist es keine Schande ein Flüchtling zu sein. Wenn wir daran denken, dass das Flüchtlingsdasein nicht gewollt ist. Dass unsere einzige Wahl darin bestand, zu Hause zu sterben oder den Tod auf der Flucht zu wagen. Es war die Wahl zwischen einer Bombe und dem Ertrinken im Meer.

Also, wer sind wir? Wir sind immer noch die Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, Lehrer und Studenten, die wir zu Hause waren. Wir sind immer noch Mütter und Väter, Brüder und Schwestern. Es war die Gewalt, die uns zu Waisen machte. Es war der Krieg, der entsetzte Eltern alles opfern ließ um ihre Kinder vor einem Gemetzel zu bewahren. Es war die Verfolgung, die uns aus unseren Häusern trieb, auf der Suche nach Frieden.

Das ist der Flüchtling. Das bin ich. Das sind wir alle, diese wachsende Bevölkerung von Menschen ohne Land. Es ist mein Aufruf, jetzt für uns alle gemeinsam Stellung zu beziehen – als Flüchtling, dem Namen, den wir alle teilen. Ich bin Yusra. Ich bin ein Flüchtling und ich stehe für Frieden, für Anstand und Würde für alle, die vor Gewalt flüchten mussten. Darauf bin ich stolz. Begleitet mich auf diesem Weg. Steht zu uns.

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Ein Gastbeitrag von Yusra Mardini
(Erste Veröffentlichung am Mittwoch, den 11. Januar 2017 auf der Website des „World Economic Forum“)

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3 Kommentare

Kommentare sind geschlossen
  1. Ja, es mögen viele sein für die das Wort Flüchtling eine negative Seite hat.
    Oft sind es die die grölen, sie schreien es heraus. Und denen sind die Menschen egal, die mit ihren traurigen, schmerzenden Geschichten. Denen sind auch andere Menschen egal. “ Ihresgleichen“. Ihre Angst beschränkt sich oft darauf, selbst zu kurz zu kommen.
    Dann gibt es jedoch auch viele die zwar leise sind, aber im Herzen laut , und für diese Menschen ist das Wort Flüchtling keineswegs ein Schimpfwort.
    Vielleicht müssen einfach wieder viel mehr Menschen lernen mit dem Herzen zu denken.
    Ich für meinen Teil möchte weiterhin alle Menschen die Hilfe brauchen , von egal woher auf dieser Welt, mit offenen Armen und Herzen empfangen
    Lieben Gruß
    Anni Musiol

  2. Hallo Yusra Mardini,

    für mich bist Du ein Mensch, nicht der Flüchtling.
    Ich bewundere Deine Tapferkeit und Aufrichtigkeit, ich wünsche Dir nur das beste.
    Ich schäme mich für meine Mitbürger die keine Ahnung haben und diese auch nicht wollen.

    Hochachtungsvoll!

    Ingo Schwarz

  3. Ich weiß, wie Flüchtling-Sein geht! Wir, meine Eltern und ich, waren auch Flüchtlinge, wenn auch nur von Ost nach West, im selben Land. Auch das war schon schwer, und das Fußfassen gelingt nie ganz, du trägst das Stigma dein Leben lang mit dir! Darum müssen wir den Flüchtenden wenigstens die äußeren Lebensbedingungen erleichtern und die Menschenwürde erhalten.

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