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Praktisch solidarisch sein

Wer die eigenen Privilegien kennt, kann auch praktisch solidarisch sein. Denn auch eine Geste, ein freundliches Wort oder ein hilfreicher Tipp können Solidarität bedeuten – auch und gerade im Berufsalltag.

Das Foto zeigt zwei Hände, die zueinander hingestreckt sind, als würden sie sich gleich fassen. Es ist ein Symbol für Hilfe und Solidarität.
Foto: Austin Kehmeier / Unsplash

Es ist Anfang 2016. Inzwischen weiß ich, dass ich nicht mehr als Hobby, sondern auch beruflich schreiben möchte. Ich habe allerdings keinen blassen Schimmer, wie das geht. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der beruflich schreibt, außer dem einen Journalisten, der abends an der Theke sitzt und sich immer den weißen Hauswein bestellt. Er ist zwar nett, aber versteht nicht, wie ich mir das vorstelle mit dem Quereinstieg. Jedenfalls legt er seine Hand nicht aufs Feuer für mich, obwohl er fest als Redakteur arbeitet und wir uns jede Woche hier sehen und fast jedes Mal über meinen Wunsch sprechen. Zu der Zeit kellnere ich in einem hippen Café und bin froh, dass ich diesen Job habe, weil ich Geld brauche – die Ausländerbehörde schaut sich jährlich meine Kontoauszüge an, bevor sie entscheidet, meine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Aber eigentlich arbeite ich hier nur noch zähneknirschend.

Gastronomie ist eine Branche der Parallelgesellschaften: Die einen sitzen, entspannen sich, haben eine schöne, erholsame Zeit, während die anderen laufen, rennen, schleppen, schwitzen, Stress haben und unterbezahlt werden. Alle befinden sich im selben Raum in der gleichen Atmosphäre, aber ihr Erlebnis könnte nicht unterschiedlicher sein. Oft serviert man Essen, während man selber Hunger hat, und Getränke, während man stundenlang nicht dazu kommt ein Schluck Wasser zu trinken. Vielen Gäst*innen scheint überhaupt nicht klar, wie anstrengend diese Arbeit ist – Kellnern ist nicht bloß nur eine Kaffeebestellung aufnehmen. Die Arbeit erfordert große Belastbarkeit, körperliche Einsatzfähigkeit, eine hohe Konzentration, starke Stressresistenz, Teamfähigkeit, Multitasking, schnelles Lernvermögen, Extrovertiertheit und Charisma. Dazu noch eine gewisse Frechheit, um sich für die besseren Schichten oder mal ein freies Wochenende durchsetzen zu können. Für all diese Skills bekommt man in aller Regel Mindestlohn und nur mieses Trinkgeld, während man chronisch unterbesetzt arbeitet.

Quereinstieg – aber wie?

Ja, ich möchte schreiben, aber habe keine Ahnung, wie das geht. Ich habe einen Twitter-Account, aber dem folgen bloß ein paar Duzend Bekannte. Ich schaue mir andere aus meiner feministischen Gruppe an und mache nach, was sie machen: Ich poste aus Veranstaltungen und kommentiere aktuelle Debatten. Ich bemühe mich, jeden Tag etwas zu posten und auch mal zu provozieren, weil mich niemand wahrzunehmen scheint. Ich schreibe Texte und veröffentliche sie auf meiner eigenen Website. Das mache ich ironischerweise genau neun Monate lang, bevor ich eines Nachmittags eine Nachricht in meinem Twitter-Postfach finde: „Ich arbeite als Redakteurin und wir sind immer auf der Suche nach neuen Autor*innen. Kannst du dir das vorstellen?“ Ich kenne diese Redakteurin, verfolge ihre Arbeit schon eine Weile. Ich kann nicht fassen, dass mir das wirklich passiert – es ist einfach zu gut, um wahr zu sein.

An meinem ersten bezahlten Text arbeiten wir über einen Monat. „Das ist normal“, vergewissert sie mir. „So ist es immer mit neuen Autor*innen.“ Circa ein halbes Jahr später mache ich bei ihr und in anderen Ressorts der Zeitung ein längeres Praktikum. Zwei Jahre nach ihrer ersten Nachricht hilft sie mir, meinen ersten Kolumnenplatz zu bekommen.

Ich bin nicht die einzige, der sie hilft – sie öffnet vielen anderen die Türen. Sie löst ihr eigenes Privileg für andere ein und bewirkt reale Veränderungen. Für mich bedeutete dies den Berufseinstieg, der ohne ihre praktische Solidarität viel schwieriger, vielleicht auch nie geklappt hätte. Um diese Art Solidarität auszuüben, muss man sich mit gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen und der eigenen Position darin auseinandersetzen, also: die eigenen Privilegien erkennen und diese im Sinne aller nutzen.

Solidarisch sein heißt auch: Es geht nicht um Dich

Das wichtigste, worauf dabei geachtet werden müsste ist, das eigene Ego auszuschalten. Weiße Europäer*innen haben historisch betrachtet die Gewohnheit, anderen mit ihren Entwicklungshilfen zu „retten“. Dieses Phänomen hat auch einen Namen: „White saviour complex“. Praktische Solidarität macht man nicht für eigene Interessen, um sich als Held*in oder Retter*in zu profilieren, sondern für die Sache. Es handelt sich um politische Arbeit, die aus Überzeugung erfolgen muss und nicht für das Ego. Wenn man etwas für sich tut, dann ist es nämlich keine Solidarität, sondern Eigennutz. Das eigene Ego raushalten bedeutet in der Praxis beispielsweise, keine Gegenleistungen wie Dankbarkeit oder Lob zu erwarten. Privilegien werden oft nicht verdient, daher darf das Teilen dieser auch nicht als Tugend gelten, sondern als Selbstverständlichkeit und Verantwortung.

Über Feedback freut sich die Redaktion unter: blog@campact.de

Das bedeutet wiederum nicht, dass man nicht darüber sprechen soll. Tatsächlich könnte öffentlich darüber zu sprechen eine positive Wirkung haben, wie zum Beispiel ein Vorbild-Effekt aufzuweisen. Wichtig ist, dass man vor allem mit Menschen, die ebenso Privilegien besitzen, darüber spricht. Ich bin fest überzeugt, dass viele nicht einmal auf die Idee kommen, bevor es ihnen andere vormachen. Offen darüber zu sprechen trägt dazu bei, Solidarität zu normalisieren und anderen zu motivieren. Das soll aber keinen Druck ausüben – in meinem persönlichen Umfeld gibt es zahlreiche Menschen, die ihre Privilegien ständig für andere nutzen aber nur in seltensten Fällen offen darüber sprechen. Das ist eine persönliche Entscheidung, alle müssen so damit umgehen, wie sie sich wohlfühlen. Wichtig ist, dass nicht die eigenen Gefühle im Zentrum stehen, sondern alleine die Solidarität, die politische Arbeit und die Bemühung, nachhaltige positive Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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