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Privilegien erkennen

Verrät das Foto meiner Katze am Fenster, wo ich wohne? Dass sich die meisten Menschen darüber keine Gedanken machen müssen, ist ein Privileg. Und das kann man sich gerne bewusst machen.

Die Katze von Sibel Schick am Fenster
Am Fenster. Foto: Sibel Schick

Ich fotografiere meine Katze. Sie ist so flauschig und niedlich. Sie schaut genau in die Kamera hinein, rollt sich hin und her, macht ein Mixtape aus ihren süßesten Bewegungen. Als wüsste sie, wie unwiderstehlich sie ist, und wie wichtig es ist, dass man ihren Niedlichkeitsgrad auch auf den Fotos erkennt. Sie schnurrt dabei. Ich muss mich bemühen, um die Kontrolle über mein Leben nicht komplett zu verlieren – so putzig ist sie.

Ich weiß, die eigene Katze ist immer die Süßeste – dennoch glaube ich aufrichtig, dass diese eine Katze, die bei uns wohnt, ganz besonders süß ist. Ich würde die Bilder so gerne online posten, ich denke, damit würde ich ganz viele Menschen glücklich machen, ihnen in diesen düsteren Zeiten den Tag versüßen. Kann ich aber nicht, weil es ungünstig ist, wie sich die Katze hingelegt hat. Auf den Bildern sieht man die Straße aus dem Fenster, die Häuser gegenüber, den Bürgersteig, die Farbe der Steine… Man könnte diese Fotos nutzen, um meine Wohnadresse herauszufinden und online zu posten.

Wenn ein Mensch so oft Drohschreiben erhält wie ich, dann will man es so gut es geht vermeiden, dass die Adresse gedoxxt wird. Und während sich viele andere gar keine Gedanken darüber machen müssen, bevor sie das Bild der neuen Zimmerpflanze oder der Regentropfen auf der Fensterscheibe posten, muss ich es, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, in Angst um die eigene Existenz und die deiner Liebsten zu leben.

Murat und Max

Mit „Privileg“ wird genau das gemeint: Sich keine Gedanken über etwas ganz Bestimmtes machen zu müssen. Mit einem bestimmten Missstand nichts zu tun zu haben, ist ein Privileg. Das kann bedeuten, dass man diesen Missstand nicht mal kennt, oder dass man ihn zwar kennt, aber nicht selber betroffen ist. Hast du dir noch nie Sorgen darüber machen müssen, bevor du ein Foto postest, dass damit eine Gefahr für Leib und Seele verknüpft werden könnten, so bist du in diesem Sinne privilegiert. Das bedeutet nicht, dass du alles im Leben leicht hattest oder hast.

Viele unserer Probleme sind strukturell und nicht durch individuelle Maßnahmen zu lösen. Dennoch kann jeder Mensch etwas für Gleichberechtigung aller leisten. Ein wichtiger Schritt gen eine gerechte Gesellschaft, den jeder Mensch machen kann und unbedingt sollte, ist: die eigenen Privilegien erkennen. Das sensibilisiert uns dafür, dass nicht alle Menschen dieselbe Realität haben, dass nicht alle gleichberechtigt sind. Um die eigenen Privilegien herauszufinden, muss man sich bestimmte Fragen stellen. Wenn wir beispielsweise herausfinden möchten, inwiefern wir privilegiert sind in einem Land, das von rassistischen Strukturen geprägt ist, dann können wir uns mit folgenden Fragen beschäftigen.

Sibel Schick schreibt im Campact-Blog über Rassismus und Allyship. Lies hier ihren Text „Umsehen lernen“.

Werde ich Rassismus ausgesetzt? Ein Beispiel: Werde ich auf meinem Bildungsweg benachteiligt? Bekomme ich, beispielsweise bei identischer Leistung, bessere Noten als Murat, einfach nur weil ich Max heiße? [1] Dann bin ich privilegiert, und in diesem Fall profitiere ich von der rassistischen Diskriminierung von Murat. Rassismus ist nämlich ein zweischneidiges Schwert: Nicht nur Murat bekommt eine schlechtere Note, weil er Murat heißt, sondern auch Max bekommt eine bessere Note, weil er Max heißt.

Bekomme ich keine Wohnungsbesichtigung oder Mietvertrag, weil sich mein Name nicht deutsch genug anhören soll? Die andere Person bekommt hingegen die Wohnung, weil sie Schmidt heißt? Auch hier gilt dasselbe: Als Schmidt bekomme ich nicht mal mit, dass eine andere Person die Wohnung, die ich beziehen darf, nicht bekam, weil sie so und so heißt. Unwissen schützt nicht vor Privileg – ich bin privilegiert, auch wenn ich es nicht wahrnehme. Und die Wohnung bekam ich nur, weil ich Schmidt heiße, also profitiere ich von der Diskriminierung anderer.

Privileg zum Selberfinden

Diese Fragen können wir durch folgende ergänzen: Empfinde ich in Begegnung mit der Polizei eher Angst oder Sicherheit? Bin ich schon mein ganzes Leben stimmberechtigt oder muss ich erst durch einen jahrelang andauernden Prozess durch, um wählen und gewählt werden zu dürfen, obwohl ich schon so lange in Deutschland lebe? Kann sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit mir und meiner Geschichte identifizieren? Wenn ich mich mit Freund*innen treffe, muss ich mir vorurteilsvolle oder andernde [2] Kommentare anhören? Wenn ich auf virtuellen Verkaufsportalen etwas kaufen oder verkaufen will, nutze ich selbstverständlich meinen eigenen Namen oder lieber einen Pseudonym, um bessere Chancen zu haben? Wenn ich eine Zeitung lese, lese ich Nachrichten, die auch Teil meiner eigenen Lebensrealität abbilden oder gehen sie komplett dran vorbei? Wenn ich einen Roman lese, einen Film oder ein Theaterstück sehe – könnte das auch meine Geschichte sein? Bin ich mit Figuren in Kunst und Kultur aufgewachsen, mit denen ich mich als Kind und Jugendliche identifizieren konnte, was mir vergewissert hat, dass ich dazugehöre? Habe ich einen abgesicherten Job? Musste ich mir jemals Sorgen um Arbeitsgenehmigung machen? Musste ich jemals unversichert ohne Vertrag arbeiten und der Gnade des Arbeitgebers angewiesen sein? Habe ich jemals Angst, abgeschoben zu werden – kann ich überhaupt abgeschoben werden? Muss ich um meine körperliche oder psychische Sicherheit fürchten, wenn bestimmte Veranstaltung in meinem Wohnort stattfinden wie Rechtsrockkonzerte oder AfD-Parteitag? Wenn ich im Netz meine Meinung poste, ist es dieser Inhalt, der kritisiert wird, oder meine Identität bzw. bloße Existenz? Wenn ich zwar nicht weiß oder deutsch bin und trotzdem als solche wahrgenommen werde – woran liegt das?

Du möchtest uns oder den Autor*innen etwas mitteilen? Gerne Mail an blog@campact.de

Die Katze streckt die Pfote gegen die Kamera und drückt mit dem Kopf auf das Kissen drunter. Ich schneide das Foto so zurecht, dass man die Häuser, die Straße oder die Pflastersteine nicht sehen kann und poste das Foto. „Hier ist deine tägliche Dosis von Katzillove“, schreibe ich dazu. Ich freue mich zwar, dass es klappt, dennoch trübt die Sorge die Freude ein wenig. Und das ist noch ein harmloses Beispiel.


[1] Rassistische Diskriminierung durch Lehrkräfte wurde mehrfach wissenschaftlich bewiesen, z.B. hier.

[2] zu der*dem Anderen machende

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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