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Polizeiproblem der Anderen

Wenn wir solidarisch sein möchten, müssen wir uns auch gegen das Rassismusproblem der deutschen Polizei wehren – sichtbar, hörbar, konsequent und unmissverständlich.

Polizeiproblem der Anderen – lies hier den Beitrag von Sibel Schick im Campact-Blog
Ob im Café oder auf der Straße: Polizeigewalt kann einen überall treffen, Foto: Pixabay

Mein Telefon klingelt. Ich gehe ran. „Ich habe mich gerade in ein Café bei dir um die Ecke gesetzt. Mit Laptop und so. Magst du dazukommen?“ fragt meine Freundin, die ebenso als Autorin arbeitet. Ich zögere erst, weil ich weiß, dass ich in öffentlichen Räumen nicht gut arbeiten kann – ich habe ADHS, alles lenkt mich ab. Und dann auch noch mit einer lieben Freundin, mit der ich viel lieber reden als arbeiten würde. Ich gehe trotzdem hin.

Es ist Selbstbedienung. Am Tresen bestelle ich eine hausgemachte Limonade und bekomme sie in einem Plastikbecher. So läuft es hier in der Türkei fast überall: Die Laden-Besitzer*innen wollen nicht für zusätzliches Personal, das spülen kann, bezahlen, also bekommt man den Kaffee in Papp- und die Kaltgetränke in Plastikbechern, selbst wenn man es nicht zum Mitnehmen bestellt. Hier wird der Müll nicht getrennt – an einem Einkaufszentrum vor wenigen Tagen bekomme ich mit, wie der Angestellte zwei Tonnen miteinander mischt, um den Müll darin wegzutransportieren: Eine Tonne mit „Recycle“ und die andere mit „Restmüll“. Während die einst wunderschönen Meere zugemüllt werden, diskutiert das Land zwar über den Sinn von Strohhalmen aus Plastik. Aber kaum jemand übt politischen Druck aus, die Ohnmacht wiegt schwerer, die Hoffnungslosigkeit ist ein festes Alltagsgefühl.

Rassismusproblem der Polizei

Ich kehre mit meinem Plastikbecher zurück zu meiner Freundin und setze mich an unseren Tisch. Wir reden ausführlich über das Stück, das sie gerade schreibt, sie ist Drehbuchautorin für Comedy, erzählt mir bestimmte Szenen, ich lache laut. Dann fragt sie mich, worüber ich gerade schreibe. „Über rassistische Polizeigewalt“, antworte ich. Während ich schildere, welche Fallbeispiele ich nehme und wie das Polizeiproblem in Deutschland aussieht, werde ich von meiner Kalender-App benachrichtigt: Morgen, erinnert sie mich, ist der Todestag von Oury Jalloh. Es ist einfach so creepy, dass das gerade wirklich passiert. Meine Freundin ist misstrauisch gegenüber der Polizei, sie erzählt eigene Erfahrungen in Haft, die sie während der Gezi-Proteste machen musste. „Ich rufe nie die Polizei für mich selbst“, sagt sie. „Höchstens für eine andere Person.“

Ich gehe zurück nach Hause, in dem Café konnte ich wie erwartet kein bisschen arbeiten. Während ich zu Hause eine meiner Quellen durchsuche, bekomme ich eine Sprachnachricht von einer Freundin. Sie erzählt mir, dass ein Kumpel von ihr an Silvester erst aus einem Club rausgeschmissen, dann grundlos mit Pfefferspray besprüht und dann verhaftet wurde. „Er ist gestorben“, sagt sie. „Er ist einfach in Polizeigewahrsam gestorben. Ich kann es gar nicht glauben. Er war kerngesund, ich verstehe es nicht.“ Er war ein Schwarzer Mann in Deutschland, sein Verbrechen war, in einer Disco feiern zu wollen.

Kein Freund und Helfer, wenn Du Hilfe brauchst

Ich lege mich schlafen und circa um drei Uhr morgens weckt mich etwas, ich kann es erst nicht einordnen, dann stelle ich fest: Es ist eine Frau, die schreit. Ich gehe zum Fenster und sehe, wie eine junge Frau eine andere junge Frau zusammenschlägt. Mit Fäusten und Tritten. Die eine schreit und wirft sich auf den Boden, die andere hält sie an den Haaren fest und zieht dran, tritt sie, schimpft mit ihr. Ich rufe die Polizei und sage, dass gerade eine Frau angegriffen wird, gebe die Adresse durch. Die eine schlägt die andere mit Pausen insgesamt 45 Minuten lang, ich schaue auf meinem Handy nach. Schließlich kommt die Familie des Opfers aus dem Haus und nimmt die Frau mit nach Hause. Immer noch keine Polizei in Sicht. Die kommt einfach nicht.

Zu viele Einzelfälle

WeAct ist die Petitionsplattform von Campact

Fordere jetzt eine unabhängige Beschwerdestelle für Polizeivergehen und unterzeichne die WeAct-Petition an Innenministerin Nancy Faeser.

Es ist eben nicht dein Freund und Helfer, wenn du Hilfe brauchst, wenn dein Leben in Gefahr ist. Hätte ich am Telefon gesagt, dass da gerade ein Auto geklaut oder ein Geldautomat randaliert wird, wären sie wahrscheinlich schnell gekommen.

#BlackLivesMatter

Als 2020 der Schwarze und unbewaffnete Zivilist George Floyd, ein US-Amerikaner, von einem weißen Polizisten getötet wurde, protestierten viele Deutsche in Großstädten. Die bisher größten Demonstrationen gegen Polizeigewalt fanden statt, viele solidarisierten sich mit schwarzen Kacheln auf ihren Social-Media-Kanälen, versehen mit Hashtags wie #BlackLivesMatter. Es war so schön, aber leider nicht nachhaltig. Vor George Floyd und auch nach ihm sind so viele Schwarze Menschen in Deutschland durch Polizeigewalt gestorben, zum Beispiel der 16-jährige Mouhamed Dramé. Ein 16-jähriges Kind. Ein Kind. Wo waren da die großen Demonstrationen? Wo waren da die flächendeckenden Solidaritätsbekundungen? Wo waren da die Talkshows, die sich mit tödlicher, rassistischer Polizeigewalt befassten?

Solidarität muss nicht leicht sein

Setzt die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Polizei etwa auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Machtstellung, mit sich selbst und den eigenen Privilegien voraus? Ja, das tut sie, und das ist nicht leicht. Aber es hat auch niemand behauptet, dass Solidarität leicht sein muss. Wenn unsere Lebensbedingungen so schwer sind, dass ein Disco-Besuch Lebensgefahr bedeutet, dann kann die Solidarität mit den Betroffenen doch gar nicht leicht sein.

Präsent und bedrohlich

Es war kein Zufall, dass ich innerhalb von 24 Stunden so viel über Polizei geredet, geschrieben und gehört habe. Das Problem ist nicht nur enorm, sondern auch im Leben von Betroffenen sehr präsent und sehr bedrohlich. Es ist bequem, das Problem woanders zu suchen, den Finger auf andere zu richten. Das ist verständlich. Wenn wir aber laut sind, sobald die Verbrechen woanders begangen werden, und wegsehen und schweigen, wenn Menschen vor unserer eigenen Tür sterben, dann sind wir eben nicht solidarisch. Wenn wir solidarisch sein möchten, müssen wir uns auch gegen das Rassismusproblem der deutschen Polizei wehren – sichtbar, hörbar, konsequent und unmissverständlich.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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