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Farbe sehen

"Ich sehe keine Hautfarbe, für mich sind alle gleich." - Warum dieser Satz mehr schadet als hilft und was statt "Farbblindheit" tatsächlich passieren muss, um die Rassismus-Debatte voran zu bringen.

Das Foto zeigt wahrscheinlich einen Stapel Tücher, die zusammengerollt aufeinanderliegen.
Foto: Sibel Schick

Es ist eine heiße Phase des Hasses, dem ich ausgesetzt werde. Ich versuche mich mit den Möglichkeiten der Technologie zu schützen – schalte Benachrichtigungen aus, blocke und lösche, aber der Selbstschutz gelingt mir nur begrenzt. Irgendwann bekomme ich zufällig mit, dass ein Redakteur einer rechtsextremen „Zeitung“ auf Twitter über mich spricht. Ich wusste nicht, dass der Hass schon so weit ging, dass so Menschen von meiner Existenz erfuhren. Ich weiß, wie gefährlich so etwas werden kann, und werde etwas panisch. Ein Tweet, den ebenjener „Redakteur“ schrieb, geht mir bis heute nicht aus dem Gedächtnis. Sinngemäß schrieb er, dass er sich nicht so sehr mit seiner Hautfarbe beschäftigen würde wie ich. Er ist weiß, denn was auch sonst, denn wer sonst hat den Luxus, das Privileg, sich eben nicht mit der eigenen „Hautfarbe“ zu beschäftigen? Eben. Das können nur diejenigen, die „keine“ Hautfarbe haben.

Sibel Schick schreibt im Campact-Blog über (Alltags)Rassismus, Allyship und Solidarität. Lies hier alle ihre Beiträge.

Das ist wichtig: Weiße Menschen scheinen gar keine Hautfarbe zu haben. Es sind immer nur die anderen, die eine Hautfarbe haben, alle anderen, aber nicht die weißen Menschen. Weiße Menschen sind eben „normal“. Sie sind halt Standard. So ist mindestens die gängige Perspektive zu Diskussionen über Rassismus. Deshalb reagieren sie häufig so geschockt, wenn sie als weiß bezeichnet werden. Die Norm benötigt keine Bezeichnung, keine Markierung.

Wenn ein weißer Mensch sagt, er würde sich nicht mit „Hautfarben“ beschäftigen, suggeriert er, dass diejenigen, die Rassismus kritisieren, die richtigen Rassist*innen seien. Das ist eine Umkehr des wahren Täter*innen-Opfer-Verhältnisses und hat das Ziel, Rassismus als ein System der Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt zu stärken. Rassismus vorsätzlich unsichtbar zu machen, damit er nicht besiegt bzw. überwunden werden kann.

Rassist*innen sind aber eben Rassist*innen und vielleicht sollten sie nicht unser Maßstab sein, oder? Denn dieser Entmenschlichung sollte gar nicht auf Augenhöhe begegnet werden, als könne Rassismus eine legitime Meinung sein. Das kann er nicht, also gehört er auch konsequent stigmatisiert und nicht debattiert. So weit, so gut.

Aber was machen wir dann mit denjenigen Menschen, die nicht mit Vorsatz rassistisch agieren, sondern unreflektiert reproduzieren? Beispielsweise wenn sie sagen: „Ich sehe keine Farbe, für mich sind alle gleich.“ Das ist nämlich der nette Cousin von dem fiesen „Ich beschäftige mich nicht so sehr mit Hautfarben“.

Wir sind nicht alle gleich. Das bedeutet: Wir sind nicht alle gleichgestellt. Wir haben nicht die gleichen Rechte und Freiheiten. Wir haben nicht alle gleich viel Macht, nicht gleich viele Ressourcen, nicht die gleichen Möglichkeiten. Uns wird nicht gleich viel Würde gegönnt, wir werden nicht nach den gleichen Maßstäben beurteilt. Was bringt es da, keine Farbe zu sehen?

Wir leben in einer Welt, die von Ungleichheit und Ungerechtigkeit gekennzeichnet ist. Keine Farbe zu sehen bedeutet in dieser Welt, keine Ungerechtigkeit zu sehen. Keine Farbe zu sehen bedeutet, kein Problem an den bestehenden Bedingungen zu erkennen. Keine Farbe zu sehen bedeutet, keinen Rassismus wahrzunehmen. Keine Farbe zu sehen suggeriert, dass dein Gegenüber Farbe sieht, wo keine sei, und damit Rassismus erfindet, wo keiner sei. Keine Farbe zu sehen, problematisiert Rassismuskritik, anstatt Rassismus zu problematisieren. Insofern ist keine Farbe zu sehen, eine Umkehr des Täter*innen-Opfer-Verhältnisses, es lenkt den Fokus um und schadet dem Kampf gegen den Rassismus.

Das Ergebnis davon, sich für „farblos“ zu halten und damit Betroffenen Rassismus vorzuwerfen, und sich für „farbenblind“ zu erklären und damit keinen Rassismus in der Welt zu erkennen, ist dasselbe. Es ist Rassismus, mit oder ohne Vorsatz spielt keine Rolle, macht gar keinen Unterschied.

Was kann man da machen? Wie kann man sich richtig verhalten?

Farbe zu sehen, ist unangenehm. Wenn man nämlich als weißer Mensch Rassismus sieht und erkennt und gesteht, muss man gleich auch darüber nachdenken, welche Rolle man in einer rassistischen Welt spielt und inwiefern man davon profitiert. Farbe zu sehen, setzt einen anstrengenden Prozess voraus. Farbe zu sehen ist, die eigene Komplexität und die eigene Menschlichkeit und Fehlerhaftigkeit zu erkennen. Es ist schwierig. Umso wichtig ist es aber. Und umso wertvoll.

Daher gilt: Farbe sehen. Auch dort, wo man bisher gar keine sehen konnte. Auch da, wo man es am wenigsten erwarten würde. Nein – gerade da, wo man es am wenigsten erwarten würde.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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