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Utøya: Schaut nicht auf den Täter

Am 22. Juli 2011 ermordete ein norwegischer Rechtsextremist 77 Menschen in einem Feriencamp auf der Insel Utøya. Die Tat wirft die Frage auf: Wie soll man mit Tätern umgehen, die ihre Gewalttaten gezielt für die Nachwelt präsentieren wollen?

Zwei Personen sitzen am Wasser und trauern um die Opfer des rechtsextremistischenAnschlags auf Utøya.
Foto: Olaf Wagner / IMAGO

Der Anschlag von Utøya schickte Schockwellen durch die Welt: 77 Tote – die meisten von ihnen Jugendliche, die in einem Ferienlager der sozialdemokratischen Partei mit Gleichgesinnten diskutieren, feiern und entspannen wollten. Ermordet wurden sie von einem Rechtsextremisten, der seither eine lebenslange Haftstrafe absitzt – und der in einem über tausendseitigen Pamphlet seine rassistische Weltsicht darlegte und versuchte, seine Tat so schriftlich zu legitimieren. 

Solche Täter bringen die Medien in eine gefährliche Grauzone. Einerseits wollen Journalist*innen umfassend über rechte Gewalttaten berichten; Motive aufzeigen, aufklären, einordnen, den Angehörigen mit ihren Recherchen im besten Fall Antworten auf die quälende Frage nach dem „Warum?“ liefern. Andererseits trifft die Öffentlichkeit immer öfter auf einen Tätertypus, der seine Selbstdarstellung von Anfang an mitdenkt. Der Taten für ein Publikum inszeniert, kommentiert, erklärt. Der Texte oder Livestreams im Internet hinterlässt, in denen er seine Weltsicht erklärt und mit seiner Tat Aufmerksamkeit auf seine rassistischen, misogynen oder antisemitischen Botschaften lenken will. Wie also können wir umgehen mit Tätern, die die Öffentlichkeit suchen, Märtyrerstatus in ihrer jeweiligen Szene anstreben – und gleichzeitig Aufklärung und das Erinnern an die Opfer hochhalten?

Wie sind wir in diese Lage gekommen? 

Das Internet hat alles verändert: Wollten Gewalttäter sich vorher zu einer Tat bekennen, eine Botschaft senden, sich inszenieren, brauchten sie dazu Dritte. Sie konnten ein Bekennerschreiben für die Polizei hinterlassen oder direkt an die Presse schicken – und waren dann darauf angewiesen, dass diese sie an die Öffentlichkeit weitertrugen. Insbesondere mit dem Entstehen rechter Online-Subkulturen wurden diese Mechanismen ausgehebelt und sind längst nicht nur in den Untiefen von Incel- oder Neonaziforen zu finden. Livestreams von Gewalttaten werden auf sozialen Netzwerken hochgeladen – wenn die Plattformen die Streams löschen, folgt sofort ein Re-Upload an anderer Stelle. Beispielhaft sind hier die in Videos übertragenen antimuslimischen, antisemitischen und rassistischen Anschläge von Christchurch (2019), Halle (2019) und Buffalo (2022) zu nennen. Der frauenfeindliche Amokläufer von Isla Vista (2014) kündigte seine Pläne in einem Video auf YouTube an. Und der Täter von Utøya verschickte seine Textwüste an seine 7.000 Facebook-Freund*innen. Ursprünglich hatte auch er geplant, seine Morde live per Video zu übertragen.

Anerkennung, Respekt und Nachahmung

Was diesen Taten gemein ist: Durch die Dokumentation in Bild oder Text suchen die Täter Anerkennung und Respekt in ihrer jeweiligen Subkultur. Die Taten werden dokumentiert, um Gleichgesinnte anzuziehen, zu motivieren oder sich selbst ihnen gegenüber aufzuwerten. In einigen Fällen gelingt das: In der frauen*feindlichen Incel-Kultur etwa steht “Going ER” – eine Anspielung auf die Initialen des Isla Vista-Täters – als Code für Massenmord oder erweiterten Suizid. Der rassistische Mörder von Buffalo bezog sich in dem Text, den er hinterließ, explizit auf die rechten Anschläge in Christchurch und Halle, denen er nacheifern wollte. Rechtsextreme glorifizieren diese Täter – vor allem im Netz: Gamer*innen benennen ihre Avatare nach dem Attentäter von Utøya, auf Imageboards wie 4chan fordern User*innen mit Fotomontagen andere zur Nachahmung auf oder führen online Ranglisten verschiedener Terroranschläge.

Motive müssen klar benannt werden

Victoria Gulde und Lara Eckstein schreiben im Campact-Blog regelmäßig zum Thema Erinnern. Lies hier alle ihre Beiträge.

In diesem schwierigen Umfeld müssen sich Medien und Öffentlichkeit bewegen, wenn sie ausgewogen, umsichtig und respektvoll gegenüber den Opfern über rechtsextreme Anschläge berichten wollen. Sie haben die Verantwortung, über die Selbstdarstellung der Täter zu berichten, ohne ihre kruden Weltbilder zu reproduzieren und aus den Nischen des Internets in die großen Tageszeitungen zu bringen. Es liegt an ihnen, Muster zu zeigen, die sich seit Utøya immer wieder bei rechten Anschlägen finden: Radikalisierungsdynamiken im Netz, die Selbstinszenierung für und Vernetzung mit Gleichgesinnten. Die Motive hinter rechten Anschlägen müssen immer wieder klar benannt werden, ohne die Rechtfertigung, die der Täter gerne abgeben möchte, mitzuliefern: Rassismus, Antisemitismus, Frauen*feindlichkeit.

Kein Resonanzraum für Täter

2019 hat sich Campact an den Presserat gewandt – in einem offenen Brief forderten wir eine andere Berichterstattung über rechtsextreme Gewalt.

Medien prägen maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung von Themen und Positionen. Zu oft erlagen sie in der Vergangenheit der Versuchung, den Tätern genau den Raum zu geben, den sie einforderten. Nach dem Anschlag auf Utøya erschienen Hunderte Artikel über den Täter, aus seinem „Manifest“ wurde wörtlich zitiert, auch in großen deutschen Zeitungen. Diese unterliegen dem Pressekodex des Deutschen Presserats, der ausführt, dass Berichterstattung sich nicht „zum Werkzeug von Verbrechern machen“ lassen soll – eigentlich.
 
Doch die Praxis zeigt: Hier muss ein Umdenken stattfinden. Medien und die kritische Öffentlichkeit müssen den rechten Selbstdarstellern den von ihnen angestrebten Märtyrerstatus klar verweigern. Das bedeutet: keine Täterfotos abdrucken, insbesondere keine Screenshots aus den Video-Selbstinszenierungen der Attentäter. Keine langen, wörtlichen Zitate aus ihren Pamphleten wiedergeben. Bekennerschreiben können ausführlich analysiert werden, ohne sie im Wortlaut abzudrucken. Und auch auf formaler Ebene können diese Ansprüche an die Berichterstattung Widerhall finden: Ziffer 11.2 des Pressekodex könnte spezifiziert werden, damit Journalist*innen, die über die zunehmende rechtsextreme Gewalt berichten, klarere Leitlinien für ihre Arbeit haben. Doch auch jenseits der Medienberichterstattung können wir etwas tun. Wir müssen Plattformen in die Verantwortung nehmen, Re-Uploads von Täter-Videos schneller und gründlicher zu löschen. Und: Den Opfern Platz einräumen, nicht dem Täter. Say their names – nicht seinen.

In Gedenken: Mona Abdinur, Ismail Haji Ahmed, Porntip Ardam, Modupe Ellen Awoyemi, Ingrid Berg Heggelund, Kjersti Berg Sand, Lene Maria Bergum, Trond Berntsen, Torjus Jakobsen Blattmann, Carina Borgund, Johannes Buø, Monica Elisabeth Bøsei, Kevin Daae Berland, Andreas Dalby Grønnesby, Monica Iselin Didriksen, Gizem Dogan, Andreas Edvardsen, Tore Eikeland, Aleksander Aas Eriksen, Andrine Bakkane Espeland, Hanne Annette Balch Fjalestad, Silje Merete Fjellbu, Even Flugstad Malmedal, Sverre Flåte Bjørkavåg, Hanne Kristine Fridtun, Sondre Furseth Dale, Isabel Victoria Green Sogn, Snorre Haller, Kai Hauge, Rune Havdal, Åsta Sofie Helland Dahl, Ida Marie Hill, Karin Elena Holst, Anne Lise Holter, Eivind Hovden, Guro Vartdal Håvoll, Steinar Jessen, Rolf Christopher Johansen Perreau, Espen Jørgensen, Sondre Kjøren, Margrethe Bøyum Kløven, Syvert Knudsen, Tove Åshill Knutsen, Anders Kristiansen, Jon Vegard Lervåg, Gunnar Linaker, Tamta Liparteliani, Fredrik Lund Schjetne, Eva Kathinka Lütken, Hanne Løvlie, Maria Maagerø Johannesen, Thomas Margido Antonsen, Tarald Kuven Mjelde, Karar Mustafa Qasim, Emil Okkenhaug, Diderik Aamodt Olsen, Hanne Marie Orvik Endresen, Henrik André Pedersen, Jamil Rafal Mohamad Jamil, Bano Abobakar Rashid, Henrik Rasmussen, Ida Breathe Rogne, Bendik Rosnæs Ellingsen, Synne Røyneland, Marianne Sandvik, Lejla Selaci, Brigitte Smetbak, Ronja Søttar Johansen, Silje Stamneshagen, Victoria Stenberg, Tina Iversen Sukuvara, Sharidyn Svebakk-Bøhn, Simon Sæbø, Elisabeth Trønnes Lie, Ruth Benedicte Vatndal Nilsen, Håvard Vederhus, Håkon Ødegaard

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Autor*innen

Victoria Gulde ist seit 2018 Campaignerin bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechtsextremismus setzt sie sich gegen die Normalisierung rechten Gedankenguts ein. Sie hat Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Internationale Beziehungen studiert. Für den Campact-Blog schreibt sie über Gedenktage und die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur. Alle Beiträge

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