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Rechte Gewalt: Das große Schulterzucken von Mölln 

Heute vor 31 Jahren starben im schleswig-holsteinischen Mölln drei Menschen – es war der erste rassistische Anschlag im wiedervereinigten Deutschland. Die Politik tat sich im Umgang mit den Hinterbliebenen schwer – jetzt scheint sie endlich einen Weg gefunden zu haben. Das ist extrem wichtig; denn der rechte Terror kommt immer wieder.

Gedenken an die Opfer von Mölln
20 Jahre nach dem Brandanschlag: Gedenken an die Opfer von Mölln, Foto: IMAGO / Christian Ditsch

Es brennt in Mölln: In der Kleinstadt östlich von Hamburg schlagen in der Nacht vom 23. November 1992 Flammen aus zwei Mehrfamilienhäusern. In beiden Häusern wohnen türkische Familien. Während es in der Ratzeburger Straße alle Bewohner*innen schaffen, das brennende Gebäude zu verlassen, sterben in der Mühlenstraße drei Frauen in den Flammen: Bahide Arslan und ihre beiden Enkelinnen, Ayşe Yilmaz und Yeliz Arslan. Neun weitere Menschen werden schwer verletzt.

Mölln geht in die Geschichte ein

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Das Feuer gelegt haben zwei Neonazis – sie werden wenige Tage später verhaftet. Einer der beiden Täter rief anonym bei der Polizei an, meldete die Brände und beendete die Anrufe mit „Heil Hitler!“. Damit geht die Brandstiftung in Mölln als erster rassistischer Anschlag im wiedervereinigten Deutschland in die Geschichte ein. Die Tat löst Empörung und Trauer aus: im ganzen Land kommt es zu Demonstrationen gegen den wachsenden Rechtsextremismus. Zu einer Trauerfeier für die Opfer in Hamburg am 27. November kommen mehr als 10.000 Menschen. Doch einer fehlt: Bundeskanzler Helmut Kohl. Als er danach gefragt wird, warum er nicht zur Trauerfeier angereist ist, erklärt sein Sprecher, die Regierung wolle nicht in „Beileidstourismus“ verfallen. Diese Wortwahl offenbart: Vor rechter Gewalt verschließen Politiker*innen nur zu gerne die Augen – vor allem, wenn die Opfer Migrant*innen sind. 

Der Anschlag von Mölln (und nur sieben Monate danach der Brandanschlag mit fünf Todesopfern im nordrhein-westfälischen Solingen) stellen das Bild in Frage, das heute oft von der rechten Gewalt der 1990er vermittelt wird: dass sie vor allem ein ostdeutsches Phänomen war. Ohne von den viel zitierten „Baseballschlägerjahren“ abzulenken, lohnt sich ein Blick darauf, dass rechte Gewalt weder erst nach der Wende, noch nur in den neuen Bundesländern um sich griff.

Von, mit und für (Ex-)Nazis

Die junge Bundesrepublik kämpft von Anfang an gegen die Kontinuitäten des Dritten Reichs. Oft wird dieser Kampf nicht sehr engagiert geführt – im Gegenteil. Einer der mächtigsten Männer der jungen BRD, Adenauers Kanzleramtschef Hans Globke, blickte auf eine erfüllte Karriere unter Hitler zurück. Für die Nazis verantwortete Globke unter anderem die Nürnberger Rassengesetze, die den Grundstein für die Ausgrenzung und Vernichtung von Jüd*innen legten. Direkt danach legt er eine steile zweite Karriere als Adenauers rechte Hand hin und prägt bis weit in die 1960er die Bundespolitik.

Globke ist damit nicht alleine: Journalisten, Politiker, Filmemacher, Richter – viele von ihnen tauschten stillschweigend ihre NSDAP-Parteiabzeichen oder SS-Uniformen gegen graue Anzüge in den Machtzentren der BRD. In diesem politischen Klima gedeihen auch paramilitärische Organisationen wie der Bund Deutscher Jugend (BDJ), der unter dem Deckmantel des Antikommunismus auch von den West-Alliierten unterstützt wird. Der BDJ macht anschließend mit antisemitischen Funktionären, versteckten Waffenlagern und „Schwarzen Listen“ einflussreicher Politiker Schlagzeilen. 

Wehrsportgruppen als Sammelbecken für gewaltbereite Rechtsextreme 

In den folgenden Jahrzehnten konsolidieren sich rechtsextreme Strukturen in der Bundesrepublik weiter. Vor allem Wehrsportgruppen werden ein Sammelbecken für gewaltbereite Rechtsextreme. Die bekannteste unter ihnen ist die Wehrsportgruppe Hoffmann, die Terroranschläge auf israelische Grenzkontrollpunkte, deutsche Beamte und US-Erdölraffinerien plante. Mitglieder der Wehrsportgruppe stecken auch hinter dem Oktoberfestattentat 1980 und dem Doppelmord an dem Rabbiner Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin im selben Jahr. 

Rechte Gewalt erreicht neuen Höchststand 

Nach der Wiedervereinigung erreicht der rechte Terror dann einen neuen Höchststand – nicht nur in den neuen Bundesländern. Neben den Brandanschlägen in Mölln und Solingen erlangen auch der Sprengstoffanschlag auf Jüd*innen im Juli 2000 in Düsseldorf und die Mordspur des NSU von Hamburg bis München traurige Berühmtheit. Mit den Freien Kameradschaften etablieren sich neue gewaltbereite Zusammenschlüsse von Rechtsextremen. Doch die politische Führung redet das Problem klein – rechte Gewalt passt nicht zum Image des frisch wiedervereinigten Staates und seines Kanzlers. Die Relativierung der Anschläge zieht sich wie ein roter Faden durch das Handeln der Bundesregierung: Kohls Fernbleiben bei der Trauerfeier für die Opfer von Mölln. Die jahrelange Kriminalisierung der NSU-Angehörigen, denen eine Schuld an den Morden unterstellt wird. Das Ignorieren rechtsextremer Hintergründe bei den Anschlägen auf dem Oktoberfest und in Düsseldorf. 

Mehr Raum für Hinterbliebene

Victoria Gulde schreibt im Wechsel mit Lara Eckstein im Campact-Blog zum Thema Erinnern.

Dass wir diese Strukturen und Hintergründe heute kennen, ist oft Ergebnis des Drucks von Hinterbliebenen und Zivilgesellschaft. Langsam öffnet auch die Bundespolitik das rechte Auge und erkennt an, wie tief rechte Strukturen die Gesellschaft durchdringen und welche Bedrohung von ihnen ausgeht. Auch im Umgang mit den Hinterbliebenen rechtsextremer Gewalt, stellen sich Politiker*innen den komplexen Fragen, die dahinterstehen: Wie kann ein Staat würdevollem Gedenken Raum geben, das den Opfern und den Wünschen ihrer Angehörigen gerecht wird? Wie kann lokale und überregionale Politik dafür sorgen, damit die Last der Aufarbeitung nicht auf den Hinterbliebenen liegt. 

Angehörige von Mölln werden gehört

Die Antworten darauf werden weiter ausgehandelt – mit jeder rechten Gewalttat wieder. Doch seit dem Brandanschlag von Mölln hat sich auch politisch viel getan und auch für die Angehörigen von Bahide Arslan, Ayşe Yilmaz und Yeliz Arslan gibt es Hoffnung: Zum 30. Jahrestag im vergangenen November haben sich Hinterbliebene und Politiker*innen in Schleswig-Holstein geeinigt, in Zukunft stärker zusammenzuarbeiten. Der Möllner Bürgermeister sagte den Familien der Opfer zu, ihre Interessen künftig stärker in die Ausrichtung des Gedenkens an den Brandanschlag einzubeziehen. Auch die Schleswig-Holsteinische Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) will der Opferperspektive nun mehr Raum bei der Aufarbeitung und im Bildungsbereich geben. 

Ende rechter Gewalt ist nicht abzusehen

Über drei Jahrzehnte nach Kohls verweigertem „Beileidstourismus“ scheint die Politik endlich einen möglichen Weg gefunden zu haben, mit den Hinterbliebenen umzugehen. Das ist extrem wichtig! Denn eins scheint leider sicher: Der rechte Terror hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die Attentate von München, Halle und Hanau zeigen das eindrücklich – ebenso wie die steigenden Statistiken zur rechtsextrem motivierten Kriminalität. Eine Gegenentwicklung ist nicht abzusehen: Mit der Eskalation im Nahen Osten wird Antisemitismus weiter salonfähig. Und auch die rassistische Abschieberhetorik quasi aller bürgerlichen Parteien, die sich von der AfD treiben lassen, macht deutlich: Ein Ende rechter Gewalt ist nicht abzusehen. 

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Autor*innen

Victoria Gulde ist seit 2018 Campaignerin bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechtsextremismus setzt sie sich gegen die Normalisierung rechten Gedankenguts ein. Sie hat Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Internationale Beziehungen studiert. Für den Campact-Blog schreibt sie über Gedenktage und die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur. Alle Beiträge

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