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Erinnern ist jetzt

Jeden Monat widmen wir einen Beitrag in diesem Blog dem Erinnern. Doch heute fällt es schwer, über die Reichspogromnacht vor 85 Jahren zu schreiben. Denn Antisemitismus ist zurück in der Gegenwart, mitten unter uns.

Deportationsmahnmal Levetzowstraße in Berlin-Moabit: Ein Güterwagon als Symbol für die Deportation Tausender Juden und Jüdinnen
Deportationsmahnmal Levetzowstraße in Berlin-Moabit: Der Güterwagon erinnert an die Opfer der Reichspogromnacht, Foto: IMAGO / Jürgen Ritter

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“: Diese berühmten Worte des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi stehen auf den Plakaten für eine Kundgebung zum 9. November. Jedes Jahr gibt es Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht: Vor 85 Jahren, im November 1938, wurden jüdische Geschäfte, Friedhöfe, Synagogen und Gemeinden im ganzen Land geplündert, zerstört und in Brand gesetzt, Jüdinnen und Juden wurden durch die Straßen geschleppt, misshandelt, vergewaltigt, inhaftiert, mindestens 1300 wurden getötet. 

Sticker: Nie wieder ist jetzt
Foto: Campact e.V.

Dein Zeichen gegen Antisemitismus

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel nehmen in Deutschland antisemitische Angriffe drastisch zu. Darum ist es jetzt wichtig, dass jede*r Einzelne sich sichtbar gegen Antisemitismus stellt. Bestelle auch Du ein Plakat und Sticker, die zeigen: „Nie wieder ist jetzt!“

Dieses Jahr sind die Plakate für eine Kundgebung in Berlin-Moabit, Plakate mit dem Spruch von Primo Levi, gewaltsam abgerissen und die Menschen, die sie aufhängen wollten, angefeindet worden. Dieses Jahr wurde der 9. November von der Gegenwart überrollt. Denn seitdem der Krieg im Nahen Osten eskaliert ist, potenziert sich auch der Antisemitismus in Deutschland. 

Antisemitismus ist grausame Gegenwart

In der Stadt, in der ich lebe, haben Menschen den grauenvollen Terroranschlag der Hamas auf israelische Zivilist*innen gefeiert. Häuser sind mit Davidsternen markiert worden, um zu zeigen: „Hier wohnen Jüd*innen“. Unbekannte haben einen Brandanschlag verübt auf die jüdische Gemeinde in Berlin-Mitte. In den ersten zehn Tagen nach dem Angriff der Hamas sind landesweit 202 antisemitische Vorfälle dokumentiert worden. Antisemitismus ist nicht nur etwas, von dem wir in Geschichtsbüchern lesen – sondern auch grausame Gegenwart. 

Es ist 2023 und Lesungen von Jüd*innen werden abgesagt, weil die Veranstaltungsorte ihre Sicherheit nicht garantieren können; oder Jüdinnen und Juden sagen öffentliche Auftritte selbst ab, weil sie Angst um ihre Sicherheit haben. Menschen haben Angst, in die Synagoge zu gehen oder in den jüdischen Supermarkt, haben Angst, ihre Kippa öffentlich zu tragen oder ihre Kette mit dem Davidstern. 100 Jahre nach den Pogromen im Berliner Scheunenviertel und 85 Jahre nach der Reichspogromnacht ist das Leben in Deutschland für Jüd*innen wieder zur Gefahr geworden. 

„From the River to the Sea, Palestine will be free“ bedeutet: Der Staat Palästina soll sich vom Jordan (River) bis zum Mittelmeer (Sea) erstrecken. Es ist die Forderung nach der Auslöschung des Staates Israel. 

Ich würde heute, am 9. November, gern darüber schreiben, wie wichtig das Erinnern an die Schrecken der Geschichte ist. Aber ich stehe verzweifelt vor den Schrecken der Gegenwart und weiß nicht weiter. Eine jüdische Freundin sagt, sie hat Angst, in unserer Stadt unterwegs zu sein an den Tagen, an denen Solidaritätsdemos für Palästinenser*innen stattfinden. Eine Freundin, die in einer anderen Stadt lebt, schickt mir ein Foto von einem Pro-Palästina-Protest und auf einem Plakat steht der antisemitische Spruch: „From the River to the Sea“. 

Antisemitismus ist nicht importiert

Oft wird das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung missbraucht, um Antisemitismus zu verbreiten. Doch das Problem ist so wenig importiert, wie es sich abschieben lässt. Nicht alle Menschen, die ihre Solidarität mit Palästinenser*innen zeigen, sind antisemitisch. Wer das behauptet, will nur das wahre Problem verschleiern. Um sich wirklich mit Antisemitismus in Deutschland auseinanderzusetzen, hilft eine pauschale Kriminalisierung von Palästina-Solidarität überhaupt nicht. 

Natürlich ist es legitim, sogar notwendig, für Waffenstillstand und Frieden im Nahen Osten zu demonstrieren, die Toten in Gaza zu betrauern und die Versorgung der Zivilbevölkerung zu fordern. Wenn aber das Existenzrecht Israels infrage gestellt, wenn alle israelischen Bürger*innen oder sogar alle Jüd*innen für die Kriegshandlungen der Regierung von Benjamin Netanyahu verantwortlich gemacht werden, dann ist das keine legitime Kritik mehr, sondern gefährlicher Antisemitismus.

Lara Eckstein schreibt im Wechsel mit Victoria Gulde im Campact-Blog zum Thema Erinnern.

Antisemitismus existiert unabhängig vom Nahostkonflikt

Der Antisemitismus in Deutschland wird durch den Nahostkonflikt angeheizt, aber er existiert auch unabhängig davon – und zwar vor allem bei den Konservativen und Rechten. 83 Prozent aller antisemitischen Gewalttaten kamen im Jahr 2022 aus dem rechten Spektrum. Wir erinnern uns: Für die AfD ist die Zeit des Nationalsozialismus ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. Und wie die Nazis damals, so hetzt heute die AfD gegen sogenannte Minderheiten: Geflüchtete, queere Menschen, … 

Von AfD bis Aiwanger

Und die AfD ist nicht die einzige Partei mit Antisemitismusproblem. Wir erinnern uns: Der heutige Vize-Ministerpräsident von Bayern hatte als Schüler ein Flugblatt in der Tasche, das die Opfer des Holocaust verhöhnt. Diese Tatsache hat Hubert Aiwanger und seinen Freien Wählern aber nicht geschadet, im Gegenteil: bei der bayerischen Landtagswahl im August hat die Partei sogar zugelegt. Und Aiwangers Antisemitismus hat die CSU auch nicht von einer Regierungskoalition abgehalten. 

Die Lehre aus der deutschen Geschichte für den Umgang mit Antisemitismus kann doch nicht sein, dass es harte Strafen nur für diejenigen gibt, die keinen deutschen Pass haben! Die aktuelle Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat ergeben, dass 15 Prozent der Deutschen antisemitischen Äußerungen zumindest teilweise zustimmen; bei Verharmlosungen des Nationalsozialismus stimmen 17 Prozent zumindest teilweise zu. Diese Zahlen sind viel zu hoch, um sie in irgendeine Ecke zu schieben. Antisemitismus ist ein urdeutsches Problem. Und es ist eine genuin deutsche Aufgabe, Antisemitismus ernst zu nehmen und zu bekämpfen, statt ihn mit Regierungsämtern zu belohnen. 

Gedenken – und dann?

Ich war oft bei der Kundgebung in Berlin-Moabit, die ein antifaschistisches Bündnis jedes Jahr in der Levetzowstraße auf die Beine stellt. Meistens war ich zu dünn angezogen und meine Zehen wurden taub, während ich den Redebeiträgen lauschte. Dort, in der Levetzowstraße Nummer 7, stand lange eine Synagoge. Am 9. November 1938 wurde sie angegriffen und beschädigt. Ab Oktober 1941 zwangen die Nazis die jüdische Gemeinde dazu, ihr Gotteshaus zu einem Sammellager für Jüdinnen und Juden zu machen. Mindestens 20.000 Menschen wurden von hier aus in die Vernichtungslager transportiert. Wir gedenken dieser Menschen, wir erinnern uns daran, wie wichtig der Kampf ist gegen die AfD und allen, die ihr den Weg bereiten – und dann? 

Gedenkarbeit ist immer wichtig und gerade ist sie wichtiger als je zuvor. Deshalb ist es heute besonders wichtig, an Stolpersteinen, Denkmälern und Kundgebungen innezuhalten und sich an die Reichspogromnacht zu erinnern. Aber wir müssen auch innehalten und feststellen: Schulen, Eltern, öffentliche Einrichtungen, der ganze deutsche Staat hat in den vergangenen Jahren versagt. Schon 2017 gab es alarmierende Zahlen dazu. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte aller 14- bis 16-Jährigen nicht wissen, was Auschwitz-Birkenau ist. Warum wurden daraus keine Lehren gezogen? Warum wird Antisemitismus noch immer als ein Problem „der anderen“ gesehen, wie die Soziologin Esra Özyürek treffend formuliert hat – und deshalb mit rassistischen Klischees überdeckt anstatt wirklich bekämpft? 

Erinnerung wachhalten

Erst wenn wir anerkennen, dass Antisemitismus ein Problem der ganzen deutschen Gesellschaft ist, können wir wirklich dazu beitragen, dass Jüd*innen sich in Deutschland sicherer fühlen. Besuche in jüdischen Restaurants und Gemeinden sind dafür genauso wichtig wie das Pflegen von Stolpersteinen und Denkmälern. Kundgebungen jeden Freitag vor jüdischen Gemeinden, sind ebenso wichtig wie die Gedenkkundgebungen und -demos heute am Jahrestag. Wir müssen die Erinnerung an die Vergangenheit wachhalten und gleichzeitig Solidarität im Hier und Jetzt leben. Nur dann können wir, ganz in Gedenken an Primo Levi, dafür sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. 

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Autor*innen

Lara Eckstein hat im Journalismus-Studium Interviews mit Überlebenden des Holocausts geführt und ist seitdem glühende Antifaschistin. Bei Campact arbeitet sie als Campaignerin gegen Rechtsextremismus; privat ist sie als stadtpolitische Aktivistin in Berlin im Einsatz. Hier bloggt sie zu Erinnerungspolitik und gegen das Vergessen. Alle Beiträge

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