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4 Jahre nach Hanau: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst!“

In Hanau gibt es heute eine Gedenkfeier für die neun Ermordeten vom 19. Februar. Vier Jahre nach dem rassistischen Attentat kämpfen die Familien und Angehörigen nach wie vor gegen das Vergessen und Verdrängen – und fordern weiterhin politische Konsequenzen.

Gedenktag und Demonstration zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau. Demonstrierende halten Schilder und Plakate mit Fotos der Getöteten hoch.
Gedenktag und Demonstration zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau. Foto: IMAGO / Nicolaj Zownir

Ich will diesen Text schreiben, ich will über Hanau schreiben, weil es so unglaublich wichtig ist. Aber mir fehlen die Worte dafür. Ich bin nicht von Rassismus betroffen. Als ein deutscher Mann am 19. Februar 2020 neun rassistische Morde begeht, dann noch seine Mutter umbringt und schließlich sich selbst, sitze ich gemütlich in Berlin. Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte ist für mich Alltag. Rechter Terror scheint mir weit weg bis zu diesem Tag. „Hört den Betroffenen zu!“, das ist das wichtigste Fazit aus dem strukturellen staatlichen Versagen, schon bei der Mordserie des NSU. Und das gilt auch heute, am 4. Jahrestag des Terroranschlags von Hanau.

Weitere Beiträge zum Erinnern und zu Gedenktagen findest Du hier.

Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov: die Namen der Ermordeten gehen durchs ganze Land nach dem Terrorangriff. Denn das war es: ein gezielter Angriff auf migrantisches Leben, perfide geplant vom Täter, der ein „Manifest“ verfasst hatte ähnlich wie der Attentäter von Christchurch. Er hat seine Opfer mitten aus dem Leben gerissen: Eine Mutter, die nur kurz Pizza abholen will für ihren Sohn und ihre Tochter. Mercedes Kierpacz stirbt mit 35 Jahren. Ein mutiger junger Mann, der den Todesschützen am ersten Tatort beobachtet, der verzweifelt mehrfach versucht, den Notruf der Polizei zu erreichen; erfolglos. Der den Täter im Auto verfolgt – und von ihm erschossen wird. Vili-Viorel Păun wird nur 22 Jahre alt.

#SayTheirNames wird zum prägenden Slogan der „Initiative 19. Februar“, in der sich die Mütter, Väter und Schwestern, Überlebende des Anschlags, Freund:innen und Mitstreiter:innen zusammenschließen. „Die Opfer von Hanau dürfen nie vergessen werden. Die Namen müssen in der Schule gelernt werden und auf den Straßen lesbar sein.“ Das schreibt Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhat Unvar, in einem Brief an die damalige Bundeskanzlerin. 

Wichtige Fragen zur Tatnacht in Hanau weiter ungeklärt

Doch all die Arbeit in Sachen Aufklärung, Erinnerung erhalten und Gedenken organisieren – sie wird vor allem von der Initiative 19. Februar vorangetrieben und von der Bildungsinitiative Ferhat Unvar. „Jahre, Monate und Tage vergehen, aber der Schmerz wächst weiter“, heißt es im Aufruf zum dritten Jahrestag. Ein Mahnmal auf dem Marktplatz, wie die Angehörigen es fordern, gibt es bis heute nicht. Die Ermittlungen zur Tatnacht sind eingestellt, ohne dass wesentliche Fragen geklärt sind: Warum war der Notruf bei der Polizei nicht besetzt? Warum war der Notausgang aus der Bar im Hanauer Stadtteil Kesselstadt verschlossen – und somit der Fluchtweg versperrt, der viele Leben hätte retten können? 

„Die Leute wollen lieber schnell vergessen. Manche leugnen den rassistischen Charakter der Tat. Und der Polizeichef, der in der Tatnacht verantwortlich war, ist sogar befördert worden“, sagt Eren Okcu. „Da kann man definitiv nicht von Konsequenzen sprechen.“ Okcu arbeitet bei der Bildungsinitiative Ferhat Unvar und lebt selbst in Kesselstadt. Ich telefoniere mit ihm, um zu erfahren, wie die Situation vor Ort ist, drei Jahre nach dem Anschlag. 

Täter-Vater bedroht die Angehörigen

Besonders belastend, sagt Okcu, sei der „psychische Terror“, der vom Vater des Täters gegen die Angehörigen der Ermordeten ausgeht. Er wohnt in Kesselstadt, „wir sind quasi Nachbarn“, sagt Okcu. „Direkt nach der Tat wollten wir natürlich den Vater nicht verantwortlich machen für das, was sein Sohn getan hat. Aber dann mussten wir feststellen: Er hat leider das gleiche rassistische und gefährliche Gedankengut wie der Täter“, sagt Okcu. „Und jetzt müssen wir erfahren: Er kämpft ganz aktiv gegen unser Gedenken an.“

So wolle der Vater die beschlagnahmten Waffen seines Sohnes zurückbekommen und setzt sich dafür ein, dass dessen Website mit rassistischer Hetze wieder online gehen darf. Schon mehrmals sei der Vater des Täters mit seinem deutschen Schäferhund vor dem Haus von Serpil Temiz Unvar spazieren gegangen. Im Oktober habe er sie gezielt in ein Gespräch verwickelt, ohne dass sie ihn erkannte. „Er hat so dumme Fragen gestellt wie ‚Warum sind Sie hier in Deutschland?‘ und erst als sie uns ein Foto von ihm geschickt hat, konnten wir sie warnen: Das ist der Vater des Täters!“ 

Seitdem lebt Serpil Temiz Unvar in Angst. „Ein Polizeiauto steht vor ihrem Haus. Aber das macht die Situation nicht gerade besser – schließlich ist die Polizei mit Schuld daran, dass ihr Sohn sterben musste“, sagt Okcu. „Und überhaupt: Wenn doch die Gefahr eindeutig vom Täter-Vater ausgeht, warum steht das Polizeiauto dann nicht vor seinem Haus und bewacht ihn?“

Ankämpfen gegen das Vergessen

Der einzige echte Schutz für die Angehörigen und Freunde der Ermordeten ist ihr enger Zusammenhalt. Schon kurz nach der Tat haben sie einen Begegnungsraum geschaffen am Heumarkt, gegenüber von einem der Tatorte: zum Zusammenkommen und Teetrinken. Und auch den dritten Jahrestag des Anschlags gestalten sie gemeinsam: Mit privatem Gedenken auf den Friedhöfen und einer offiziellen Gedenkveranstaltung und Demo ab 16 Uhr auf dem Marktplatz; am Abend gibt es Mahnwachen an den Tatorten am Heumarkt und in Kesselstadt.

Es ist ein Gedenken, aber es ist auch ein Ankämpfen gegen das Vergessen und Verdrängen der Tat. Schon 2020 sorgte der Karnevalstaumel dafür, dass der Schrecken der Tatnacht am 19. Februar bei vielen Menschen ohne Migrationsgeschichte erst sehr spät ankam. In Hanau habe es Gespräche mit der Stadtverwaltung gegeben. Die Karnevalsumzüge seien in die Außenbezirke verlegt worden, um das Gedenken nicht zu stören, berichtet Okcu. Immerhin.

Was den Familien der Ermordeten besonders wichtig ist: Nicht nur in Hanau, sondern im ganzen Land gibt es an jedem Jahrestag Gedenkveranstaltungen. „Beim 1. Jahrestag gab es an über 80 Orten Kundgebungen und Demos, 2022 sogar in über 100“, sagt Okcu. 2023 wurde der 19. Februar als bundesweiter Aktionstag gegen Rassismus ausgerufen. In diesem Jahr gedenken Tausende Menschen in ganz Deutschland den Ermordeten. Eine zentrale Übersicht aller Veranstaltungen gibt es leider nicht – aber schau doch mal nach, ob Du auch in Deiner Stadt eine Veranstaltung findest heute! (Für Nordrhein-Westfalen hat der Westdeutsche Rundfunk (WDR) zum Beispiel einige Termine zusammengetragen.)

Wendepunkt im Gedenken 

„Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Das sind Worte, die Ferhat Unvar 2015 auf seiner Facebookseite gepostet hatte. Heute stehen sie auf Karten, Aufklebern, Plakaten und Schildern. Vier Jahre nach dem schrecklichen Anschlag gilt deshalb noch immer: Informiert Euch über die Tatnacht in Hanau – zum Beispiel in dieser Podcast-Reihe. Im Foyer des Rathauses in Hanau war 2023 eine Ausstellung zu sehen. 

Der schreckliche Anschlag von Hanau hat etwas verändert: Er ist zu einem Wendepunkt im Gedenken an rechten Terror in Deutschland geworden. Bei der Mordserie des „NSU“ standen in der Berichterstattung viel zu sehr die Täter und die Täterin im Mittelpunkt; viel zu wenig ging es um die Perspektive der Ermordeten und ihrer Angehörigen. Dass dies wieder passieren könnte, dieser Gefahr waren sich die Menschen in Hanau schon am 19. Februar 2020 sehr bewusst. Sie setzten deshalb von Anfang an alles daran, ein anderes Gedenken zu schaffen: Eines, bei dem die Namen der Opfer im Mittelpunkt stehen. Gökhan, Sedat, Said Nesar, Mercedes, Hamza, Vili-Viorel, Fatih, Ferhat, Kaloyan: Sie sollen erinnert werden – der Name des Täters dagegen gehört nicht in die Geschichtsbücher.  Das ist gelungen dank des unermüdlichen Engagementes der Angehörigen und Freund:innen der Ermordeten, dank engagierter Menschen aus Hanau und im ganzen Land. Doch auf politische Konsequenzen warten sie bis heute. 

Warten auf politische Konsequenzen

„In der neuen Bundesregierung gibt es einige gute Ansätze: einen Lagebericht Rassismus beispielsweise. Das ist schon besser als unter der GroKo“, sagt Eren Okcu aus Hanau am Telefon. Aber er schiebt sofort die Frage nach: „Sind das auch Schritte, die wirklich solche Anschläge wie den in Hanau verhindern können? Und vor allem: Sind das auch Schritte, die Rassisten ihren Nährboden entziehen, also etwa indem etwas getan wird gegen soziale Ungerechtigkeiten?“

Einen Tag nach dem Anschlag gab es auf dem Marktplatz eine offizielle Mahnwache: Der Bundespräsident kam nach Hanau und der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU). „Ich erinnere mich noch genau, ich stand ganz vorne“, sagt Okcu. „Sie haben damals gesagt: Die Sache wird lückenlos aufgeklärt. Aber das ist nicht passiert. Bis jetzt gab es nur warme Worte von der Politik. Echte Unterstützung, auch finanzieller Art, bekommen wir für unsere Arbeit kaum.“

Die Initiative 19. Februar finanziert sich bisher größtenteils aus Spenden. Hier kannst Du ihre Arbeit unterstützen. 


Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag ist am 19. Februar 2023, zum 3. Jahrestag des Anschlags, zum ersten Mal erschienen. Für den diesjährigen Gedenktag haben wir ihn aktualisiert und stellenweise angepasst.


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Autor*innen

Lara Eckstein hat im Journalismus-Studium Interviews mit Überlebenden des Holocausts geführt und ist seitdem glühende Antifaschistin. Bei Campact arbeitet sie als Campaignerin gegen Rechtsextremismus; privat ist sie als stadtpolitische Aktivistin in Berlin im Einsatz. Hier bloggt sie zu Erinnerungspolitik und gegen das Vergessen. Alle Beiträge

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