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Nach Angriffen auf Politiker*innen: Neue Welle rechter Jugendgewalt im Osten?

Jugendliche greifen Politiker*innen an: In Dresden wurde der SPD-Kandidat Matthias Ecke von einem 17-Jährigen brutal attackiert. Im Oder-Spree-Kreis greift ein 14-Jähriger Mitglieder der Linkspartei an. Haben wir es mit einer neuen Welle von rechter Jugendgewalt zu tun?

Ein frisch aufgehängtes Wahlplakat von Marius Wittwer (SPD) hängt abgerissen und durchgerissen am Mast einer Straßenlaterne in Leipzig.
Ein frisch aufgehängtes Wahlplakat von Marius Wittwer (SPD) hängt abgerissen und durchgerissen am Mast einer Straßenlaterne in Leipzig. Foto: IMAGO / foto-leipzig.de

Am vergangenen Freitagabend, dem 3. Mai, wurde der SPD-Spitzenkandidat zur EU-Wahl in Sachsen Matthias Ecke beim Aufhängen von Wahlplakaten in Dresden angegriffen. Er wurde so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus operiert werden musste. Am selben Abend wurde auch ein grünes Wahlkampfteam nur wenige Straßen weiter angegangen; am Donnerstag kam es bereits zu einem Vorfall in Essen. Ende April geschah Grünen und Volt-Vertreter*innen Ähnliches in Chemnitz, Leipzig und Zwickau; im Oder-Spree-Kreis wurde ein Wahlkampfteam der Linken attackiert

Campact spendet an betroffene Verbände

Als Zeichen der Solidarität mit den attackierten Politiker*innen ruft Campact zu Spenden an die betroffenen Ortsverbände auf – und spendet selbst 30.000 Euro.

Mit dem Aufruf will Campact verhindern, dass das Kalkül der Täter aufgeht, demokratische Parteien mundtot zu machen und aus dem Straßenwahlkampf zu tilgen.

Klar ist: Wer immer von Faschisten angegriffen wird, dem gilt volle Solidarität. Die Vorfälle sind dramatisch und sagen viel über den Zustand unserer Gesellschaft aus. Besonders erschütternd ist in einigen Fällen das Alter der Täter. Der Angreifer von Matthias Ecke hat sich mittlerweile selbst gestellt; er ist 17 Jahre alt. Im Oder-Spree-Kreis wurden die Mitglieder der Linkspartei von einem erst 14-Jährigen attackiert. So dramatisch und unangemessen diese rohe Gewalt gerade in Wahlkampfzeiten ist, umso mehr stellt sich die Frage: Ist das Ausdruck einer neuen rechten oder rechtsextremen Jugendkultur?

Rechte Gewalt zieht seit Jahren an

Schon einmal erlebten wir, insbesondere in Ostdeutschland, eine Welle massivster rechter und rechtsextremer Jugendgewalt. Die sogenannten Baseballschlägerjahre sind in den letzten Jahren immer ausführlicher in Büchern, dem Feuilleton und in Zeitungen besprochen worden. Grit Lemke beschreibt das eindrücklich in ihrem Buch „Kinder von Hoy“

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht nach dem Angriff auf ihren Parteigenossen von einer „neuen Dimension antidemokratischer Gewalt“. Der Aktivist Jakob Springfeld widerspricht ihr vehement – und hat damit Recht. Denn zunächst einmal ist festzuhalten: Wir können nicht von einer „neuen Welle“ sprechen. Rechte und rechtsextreme Gewalt ziehen seit Jahren an, das bestätigt auch das Bundeskriminalamt. Die spannende Frage bei den Angriffen ist also eher: Wie kann es sein, dass so junge Menschen rechte Gewalttaten verüben?

Rechtsruck im Land

Die Erklärungsansätze sind sicher vielschichtig, die Eskalation rechter Gewalt ist ein komplexes Problem. Zum einen ist seit Jahren eine massive Diskursverschiebung nach Rechts zu beobachten. Unsere Gesellschaft, auch unsere Parteien, driften immer mehr in eine Normalisierung rechter Positionen ab. Ein eindrucksvolles Beispiel ist der Begriff „Rechts“. Seit einiger Zeit sind unter anderem auch CDU-Politiker*innen bemüht, sich die Verortung als politische Rechte anzueignen und sie zu normalisieren.

Hätte man noch vor wenigen Jahren einem CDU-Politiker zugerufen, dass er ein Rechter ist, wäre er protestierend aufgestanden und hätte klargestellt: konservativ ja, rechts aber auf keinen Fall. Dass es plötzlich en vogue und völlig normal ist, „rechts zu sein“, haben wir auch einer CDU zu verdanken, die den Sprech- und Diskursraum nach Rechts immer weiter öffnet und normalisiert – nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit der AfD in Kommunal- und Landesparlamenten. 

Soziale Infrastruktur im Osten fehlt

Punkt zwei: Gerade Ostdeutschland ist seit 1990 chronisch unterversorgt mit sozialer Infrastruktur. Die schlechteren Arbeitsbedingungen, die jahrzehntelange Ungleichbehandlung der Ostdeutschen bei Löhnen, Renten und sozialer Absicherung, die berechtigten Abstiegsängste, der Abbau der sozialen Infrastruktur vor Ort – all das geht nicht spurlos an den Menschen und Nachbarschaften vorbei. Und es betrifft nicht nur die Jugendliche, sondern auch die Eltern. Natürlich ist das auch ein Thema am Abendbrottisch. Und natürlich werden dort Sorgen und Ängste geteilt, aber auch berechtigte Wut. 

Ein wichtiges Element, um dies aufzufangen: Anlaufpunkte für Jugendliche, zum Beispiel Jugendzentren. Diese Räume sind ein nicht zu unterschätzender Bezugspunkt für junge Menschen außerhalb von Familie und Schule. Ein Schutzraum, in dem man sich mit seinen Freund*innen treffen, gemeinsame Erlebnisse schaffen und wachsen kann. Gleichzeitig sind es aber auch Räume, in denen klare Regeln herrschen, die für das Zusammenleben wichtig sind, mit denen man sich arrangieren und in einem sozialen Gefüge funktionieren lernen muss. Solche Einrichtungen der Jugendhilfe, wie es auf dem Amt heißt, leisten wahnsinnig viel, bis hin zu Erziehungsaufgaben, die übernommen werden, weil es vielleicht die Eltern oder die Schule schlicht nicht leisten können. In solchen Räumen wächst die nächste Generation unserer Gesellschaft heran.

Das Problem: Der gesamte Osten ist chronisch unterfinanziert, was Jugendarbeit angeht. Das liegt daran, dass die Jugendhilfe Aufgabe der Kommunen ist. Die Kommunen beziehen ihr Geld aber größtenteils aus den Steuereinnahmen der Einwohner*innen. Wenn die Menschen aber schlecht verdienen, was im Osten der Fall ist, oder deswegen wegziehen, dann gibt es eben nur wenig oder gar keine Steuereinnahmen, aus denen Jugendarbeit finanziert werden könnte. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn es keinen Jugendclub mehr gibt, geht ein elementarer Teil der Vermittlung von Gemeinschaft, von sozialen Normen und sozialem Umgang miteinander, von Gewaltfreiheit und demokratischen Prinzipien verloren. Wenn es schlecht läuft, wird das nirgends aufgefangen und ein gefährliches Vakuum entsteht, das Rechtsextreme für sich zu nutzen wissen.

Die Faschisten wollen unsere Jugendlichen

Seit Jahren versuchen Rechtsextreme die Köpfe, Herzen und Fäuste von Jugendlichen für sich zu gewinnen und nutzten dabei unterschiedlichste Strategien im Verlauf der Zeit. Ob offene Kampfsporttrainings der Neonazipartei „Dritter Weg“ oder die „Schulhof-CD“ der Freien Kameradschaften und der NPD. Die Neonazis scheuen nicht davor, Jugendliche anzusprechen, Angebote zu machen und sie, wortwörtlich, dort abzuholen, wo sie stehen. Wenn niemand anderes diese Aufgabe übernimmt, überlassen wir unsere Heranwachsenden sehenden Auges den Faschisten. 

Es sind unter anderem diese drei Punkte – und sicher noch viele mehr – die aus meiner Sicht dazu führen, dass wir als Gesellschaft derzeit an einem Punkt stehen, an dem der Weg in eine andere Richtung eine massive Kraftanstrengung wird. Investitionen in Jugendarbeit, Bildung, soziale Sicherung und anderes zahlen sich zum Teil erst Jahrzehnte später aus. Dass hier im Osten in den letzten Jahrzehnten immer wieder der Rotstift angesetzt wurde, rächt sich nun schon seit Jahren. Die aktuelle Jugendstudie zeigt eindrücklich, dass auch selbst unter Jugendlichen sich der Trend massiv nach rechts bewegt. 

Wie können wir das Problem lösen?

Was ist also zu tun?

1. Auf allen politischen Ebenen muss klar sein: Jeder Euro für Jugendhilfe ist ein guter Euro. Es braucht dringend mehr Unterstützung auch selbstverwalteter Jugendräume, insbesondere in Ostdeutschland.

2. Demokratieförderung stärken. Es braucht endlich bundesweit eine gut finanzierte und verlässliche Förderung von Demokratieprojekten.

3. Rechte Diskursverschiebung stoppen. Politische Parteien müssen sich endlich zusammenreißen und sind in der Pflicht, der AfD und Co. nicht nach dem Mund zu reden.

4. Wir alle sind aufgefordert, immer und überall laut zu werden, wenn rechte Gesprächspunkte einfach so in die Diskussion einfließen, als wäre es das Normalste der Welt.

5. 34 Jahre nach dem Ende der DDR kommt man sich wirklich langsam blöd vor, dass man das immer noch fordern muss, aber: bessere Lebensverhältnisse für den Osten. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Wiederaufbau der Infrastruktur, gut bezahlte Jobs, staatliche Offensiven.

Solidarität mit allen Opfern rechter Gewalt

Matthias Ecke und weitere Parteivertreter*innen sind prominente Beispiele von Opfern rechter Gewalt. Es ist gut, dass gestern so viele Menschen spontan zusammengekommen sind und ihre Solidarität bekundet haben. Das macht mir Mut. Denn es zeigt, dass es nach wie vor rote Linien gibt, die nicht überschritten werden dürfen. Klar ist aber auch: Jeden Tag werden im ganzen Land Menschen von Nazis verprügelt, zusammengeschlagen oder angegangen. Selten steht das in der Zeitung, oft wird es erst Wochen später bekannt. Aber auch diese Menschen brauchen unsere Solidarität und erst recht unsere (finanzielle) Unterstützung. Die Opferberatungsstellen für Betroffene rechter Gewalt in der ganzen Republik leisten Großartiges. Weitere Informationen und die Möglichkeit, für alle Opfer rechter Gewalt zu spenden, gibt es hier.

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Autor*innen

Danny Schmidt ist seit 2019 Campaigner bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechts setzt er sich vor allem gegen das Erstarken rechter Strukturen, Bewegungen und Parteien ein. Als Nachwendekind aus der ostdeutschen Provinz lässt ihn die Frage der ostdeutschen Identitäten nicht los – für den Campact-Blog schreibt Danny Schmidt für, über und aus Ostdeutschland. Alle Beiträge

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6 Kommentare

  1. Was hier in unserem Land passiert, ist fast nicht mehr tragbar. Hier spricht man von Faschisten und Nazis. Wo sind wir hingekommen. Die AfD ist eine gewählte Partei. Was diesen Politikern alles unterstellt wird, ist Schmutz und Gosse. Ich glaube, dass ganz viele Menschen in diesem Land inzwischen so denken. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun.
    Die sogenannten „demokratischen“ Parteien vereinen sich, nur um eine andere Partei zu verhindern. Dann brauche ich doch gar nicht mehr die CDU zu wählen, denn wenn die gezwungenermaßen mit LINKE, SPD, GRÜNE zusammengehen, reicht es doch, die CLSG zu wählen. Hoffentlich begreifen das noch viele Menschen in diesem Land.

    Antworten
    • Hallo Conny. Dass die AfD durch demokratische Wahlen in den Parlamenten vertreten ist, macht sie noch nicht zu einer demokratischen Partei.

      Mehr noch:
      Die AfD ist eine antidemokratische Partei, weil sie sich politisch gegen eine Vielfalt von demokratischen Grundwerten einsetzt und damit die Demokratie gefährdet. Die Partei greift z.B. die Presse- und Meinungsfreiheit an, hetzt gegen Minderheiten, verharmlost die NS-Zeit, und zweifelt die freiheitlich demokratische Grundordnung an. Zum Weiterlesen: https://www.belltower.news/antidemokratie-was-ist-eigentlich-demokratiefeindlich-an-der-afd-92579/

      Viele Grüße!

  2. Solange der Begriff „Demokratieförderung“ so unterschiedlich interpretiert und umgesetzt wird, Gruppen sich gegenseitig ausgrenzen und die Opfer-Rolle bestärkt wird, treten wir auf der gleichen Stelle!
    Ich selbst habe mich aus diesem Grunde weitgehend zurück gezogen und mache nach wie vor mein Engagement allein. Mir geht es überhaupt nicht um die Darstellung der aktiven Person, sondern erstrangig um einen langen Atem für ein konsequentes Engagement gegen Rechtsextremismus.
    Hier hat die Politik allgemein auch bei mir ‚verspielt‘!
    Symbolische Aktionen mit div. Transparenten wie „Schöner leben ohne Nazis“ diese oft wochenlang vor unübersehbaren Nazi-Botschaften gehen wohl eher ‚hinten raus‘.
    Ich verkneife mir noch andere fragwürdige Beispiele………….

    Antworten
  3. Die anderen Parteien müssen sich die
    Frage stellen was in unseren Land
    nicht richtig läuft.

    Antworten
  4. Es sollten alle Übergriffe verurteilt werden. Derzeit wird der Fall in Nordhorn gar nicht oder kaum erwähnt. Bedauerlich diese einseitige Berichte -auch von den bezahlten Medien wie ARD, ZDF und Ladesfunkhäuser.

    Antworten
  5. Wir müssen jetzt alle gemeinsam zusammenstehen, um die faschistische Gewalt, der AfD und ihrer befreundeten Organisationen zu bekämpfen! Wir dürfen den AfD -Faschisten KEINEN Raum lassen! Unsere Welt ist BUNT NICHT BRAUN‼️

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