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Gewalt als ständige Bedrohung

Ohrfeigen, Schläge mit dem Stock und öffentliche Erniedrigung waren und sind zum Teil immernoch Teil des Schulsystems in der Türkei. Was so eine ständige, normalisierte Gewalt mit einer Gesellschaft macht und wo das die heutige Türkei hingeführt hat.

Eine Lehrerin in einem roten Blazer steht mit dem Rücken zur Kamera. Sie dirigiert Schülerinnen und Schüler einer Grundschule in Istanbul.
Eine Lehrerin dirigiert Schülerinnen und Schüler einer Grundschule in Istanbul. Foto: IMAGO / Middle East Images

Trigger-Warnung: In diesem Text geht es um körperliche und psychische Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.

Am 7. Mai 2024 wurde in Istanbul der 74-jährige Schulleiter namens İbrahim Oktugan von einem suspendierten Schüler erschossen. Nach dieser schrecklichen Nachricht demonstrierten und streikten Lehrkräfte. Die Tageszeitung „Hürriyet“ schrieb, dass einige Schulen in Istanbul wegen des Streiks leer blieben.

Das traurige Ereignis beschäftigt das Land. Zahlreiche Plattformen, von politischen Social-Media-Accounts bis hin zu traditionellen Medien, greifen den Fall auf. Das Ziel dieser Posts und journalistischen Artikel scheint jedoch weit davon entfernt zu sein, Antworten auf die Frage zu suchen, wie es dazu kommen konnte – oder gar Lösungen zu entwickeln. Denn schon die Sprache ist gewaltvoll gegenüber dem mutmaßlichen Täter, einem 17-jähriger Jugendlichen irakischer Herkunft mit türkischer Staatsbürgerschaft. Sowohl die Tragödie, als auch die Reaktionen darauf, sind wie eine Momentaufnahme der Türkei.

Sibel Schick ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Im Campact-Blog schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist.

Wie wird über den Fall gesprochen? Die Tageszeitung „Sabah“ zum Beispiel betitelt einen Artikel dazu mit: „Er hat den Schulleiter İbrahim Oktugan getötet: Scheinbar war es nicht das erste Verbrechen von Yusuf K.“ Der erste Satz des Artikels lautet: „Die Gewalt breitet sich neuerdings an der Schule aus.“ Doch ausnahmslos alle, die in der Türkei leben und alt genug sind, um Zeitung zu lesen, wissen, dass die Gewalt nicht erst an dem Tag, an dem ein Schüler namens Yusuf K. seinen Schulleiter tötete, auf die Schule übergriff. Physische und psychische Gewalt war schon immer ein unverzichtbarer Bestandteil des Bildungssystems der Türkischen Republik und ein gesamtgesellschaftlicher Disziplinierungsapparat „aus dem Paradies“.

Ohrfeigen nach der Mittagspause

In der Grundschule kaufen meine Lieblings-Klassenkameradin Mürüvvet und ich in der Mittagspause eine Packung Joghurt und ein Stück Brot. Wir setzen uns auf die Treppenstufen eines Wohnhauses, tunken Brot in Joghurt, essen zu Mittag. Wir plaudern, lachen, vergessen die Zeit. Als wir zur Schule zurückkehren, merken wir, dass wir zu spät kommen. Als wir das Klassenzimmer betreten, ruft uns die Lehrerin an die Tafel, bevor wir unsere Plätze einnehmen dürfen. Sie fragt, wo wir blieben, wir antworten. Unsere Lehrerin, unser Ein und Alles, gibt uns jeweils heftig eine Ohrfeige und lässt uns dann Platz nehmen. Ich weiß nicht, was Mürüvvet denkt, aber ich denke mir innerlich nur: „Endlich ist es vorbei.“

Ich wurde 1985 im Zentrum von Antalya geboren und besuchte während meiner Schulzeit fünf verschiedene Schulen. Von der Grundschule bis zum Schulabschluss, und da war ich schon volljährig und erwachsen, erlebte ich ausnahmslos an jeder Schule, die ich besuchte, sowohl physische als auch psychische Gewalt. Außerdem wurde ich Zeugin von Gewalt gegen andere Schüler*innen. Die Gewalt gegen andere, die Schüler*innen direkt miterleben müssen, hat eine ganz besondere Auswirkung und ein konkretes Ziel.

Sie macht ihnen nicht nur Angst und traumatisiert sie, sondern veranlasst sie auch dazu, bestimmte Verhaltensweisen zu vermeiden und bestimmte andere an den Tag zu legen, um nicht geschlagen zu werden; also um sich, als Reaktion auf eine ständige Bedrohung, selbst zu regulieren. Jede Ohrfeige, die nicht in meinem, sondern im Gesicht einer anderen Person landet, stimmt mich dankbar. Die Zeit in der Grund- und weiterführenden Schule war besonders geprägt von der Angst vor Schlägen und der Frage, was ich tun kann, um Schläge zu vermeiden.

Gewalt gehört zum Schulalltag

Gewalt war die größte Konstante in meinem Schulleben, vor allem in den ersten acht Jahren. Die Ausführenden dieser Gewalt waren größtenteils Lehrkräfte. Die Schüler*innen, denen gegenüber die Lehrkräfte gewalttätig waren, übten selbstverständlich auch gegeneinander Gewalt aus. Warum auch nicht in einem Umfeld, in dem Gewalt so normal und alltäglich war? In den Schulen, die ich besuchte, gab es fast täglich mehrere Schlägereien. Während der Oberschulzeit begannen einige der Schüler*innen, die ihre körperliche Entwicklung weitgehend abgeschlossen hatten, Gewalt gegen Lehrer*innen und Verwaltungsangestellte anzuwenden, die Gewalt gegen sie angewendet hatten. Diese Schüler*innen, die Gewalt gegeneinander und später auch gegen das Schulpersonal anwendeten, wurden also nun durch das Bildungssystem zu Täter*innen gemacht.

Gewalt gegen das Schulpersonal war in früheren Schuljahren aufgrund der unterschiedlichen körperlichen Stärken nicht möglich. Der winzige Körper einer Grundschülerin kann sich natürlich nicht gegen die Gewalt eines Erwachsenenkörpers wehren. Dies ist eine der Kosten dafür, ständig Gewalt ausgesetzt zu sein und Zeuge davon zu werden: Gewalt kann die Machtverhältnisse umkehren. Aus den Opfern werden Täter*innen und diese Täter*innen produzieren wiederum Opfer. In einem Umfeld, in dem Gewalt normal ist, ist niemand jemals sicher. Wir als Schüler*innen in Schulgebäuden, in denen Gewalt normal war, waren nie sicher. Und nachdem wir eine bestimmte Körpergröße und ein bestimmtes Gewicht erreicht hatten, waren es die Lehrkräfte, die nicht mehr sicher waren. So funktioniert der Kreislauf der Gewalt.

In der Mittelschule sitze ich mit drei Freunden im Park gegenüber der Schule. Als die Mittagspause zu Ende geht, gehen wir zurück zur Schule, küssen uns zum Abschied auf die Wangen, so wie es bei uns üblich ist. Sie gehen, ich betrete den Schulhof, will zu meiner Klasse laufen. Der stellvertretende Schulleiter kommt auf dem Hof auf mich zu, sagt „Der Schulleiter ruft Dich“, und bringt mich in sein Büro. Als ich hereinkomme, verpasst mir der Schulleiter zwei sehr heftige Ohrfeigen. Er sagt: „Schämst Du Dich nicht, Dich von all diesen Jungs küssen zu lassen, du Schamlose?“ Er schlägt mich so heftig, dass der stellvertretende Schulleiter, der in Sachen Gewalt nicht besser ist als der Schulleiter, Mitleid mit mir hat. „Komm schon, Mädchen“ sagt er und holt mich aus dem Büro des Direktors.

Stellen wir uns nun ein Land als ein Schulgebäude vor, denn alles, was in einem Schulgebäude wahr ist, ist auch außerhalb wahr. Was könnte der Grund dafür sein, dass Gewalt in türkischen Schulen – zumindest zu meiner Zeit und zu der Zeit davor – so häufig vorkam und weitgehend akzeptiert wurde? Was könnte der Grund dafür sein, dass Gewalt in irgendeinem Kontext akzeptiert wird? In diesem Fall liegt es daran, dass die türkische Gesellschaft eine autoritäre Struktur hat und stark von Hierarchien geprägt ist. Hierarchisch geprägte Gesellschaften wollen folgen und gehorchen. Wenn sie die Regeln teils sogar fanatischer befolgen und etablieren als diejenigen, die sie erfunden haben, fühlen sie sich wertvoll, sie fühlen sich als Teil von etwas Größerem. Sie suchen die Bestätigung von außen und der einfachste Weg, sie zu spüren, ist zu gehorchen.

Schläge als gezielte Inszenierung

Wir, nicht nur Schüler*innen, sondern auch Eltern und Sorgeberechtigte und die Gesellschaft als Ganzes, gehorchen unseren Lehrer*innen, weil sie Autoritätspersonen sind. Genau wie unsere Väter oder unsere Polizist*innen oder unsere Soldat*innen oder unsere Supermarkt-Sicherheitsleute. Was den Lehrkräften als Autoritätspersonen am meisten hilft, ist, dass Atatürk als der Oberlehrer gilt und somit jeder Lehrer als ein kleiner Atatürk. Unbestritten und heilig. Selbst wenn er flucht, demütigt, schlägt oder tötet, muss er sich etwas dabei gedacht haben.

Wir haben eine Geschichtslehrerin ab der 10. Klasse, die einfach ungern unterrichtet. Oft sagt sie: „Das lernt ihr selber zuhause und heute lese ich Euch lehrreiche Aphorismen vor.“ Wenn sie uns keine Aphorismen vorliest, erzählt sie intime Details aus ihrem Privatleben. Etwa, dass ihr Mann sie mit einer anderen Frau betrogen hat. Eines Tages lässt sie einen der Jungs die Frau anrufen und sie am Telefon unbeschreiblich beschimpfen. Uns kommt all das entgegen, Hauptsache wir müssen uns nicht anstrengen. Wir gehen sowieso davon aus, dass sie sich mit der Geschichte nicht auskennt. Was sie nämlich unter „Unterrichten“ versteht ist bloß, die Texte aus dem Schulbuch vorzulesen.

Diese Geschichtslehrerin hat einen Stock bei sich, den sie „Hakyemez“ nennt, das bedeutet etwa „der Faire“. Mit diesem Stock schlägt sie uns. Wenn sie uns an einem Tag nicht mit dem Stock schlagen will, dann schlägt sie uns mit Kraft und Schwung auf den Rücken. Wenn sie den Arm hebt, ruft die ganze Klasse „Hoooooop“ und wenn sie ihn senkt „Boooommm“. Nach dem Schlag gibt es Applaus. Für unsere Geschichtslehrerin ist das Schlagen wie ein Bühnenauftritt.

Skandalisierung dort, wo Fragen nötig wären

Ich möchte nicht sagen, dass der getötete Schulleiter İbrahim Oktugan Gewalt gegen seine Schüler*innen anwendete. Oder, dass er es verdient hätte, was ihm geschah. Auf keinen Fall. Was passiert ist, ist sehr beängstigend, sehr traurig. Was ich aber sagen will: Während wir auf dieses Ereignis reagieren – und wir sollten auf jeden Fall reagieren –, sollten wir die Sprache, die wir verwenden, und die Denkmuster, in die wir verfallen, mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit betrachten und sie auf ihre Wurzeln hin hinterfragen.

In Fortsetzung derselben Nachricht schreibt die Tageszeitung Sabah: „Die Strafakte des verhafteten 17-jährigen Kriminellen erwies sich als recht umfangreich.“ Ein 17-Jähriger ist juristisch betrachtet noch ein Kind. Zeitungen, die nicht einmal jene Männer, die Handgranaten auf ihre Frauen werfen, als kriminell bezeichnen, greifen mit Begeisterung zur Feder, wenn es sich bei dem Täter um ein Flüchtlingskind aus dem Irak und bei dem Opfer um einen Lehrer handelt. Warum und inwiefern bringt dieses Land aus seinen Kindern Täter hervor? Diese Frage steht da, wie bestellt und nicht abgeholt.

Femizide in Deutschland stoppen

 Jeden Tag erleben unzählige Frauen in Deutschland Gewalt aufgrund ihres Geschlechts. Schon fast 150.000 Menschen fordern auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, eine unabhängige Beobachtungsstelle für Femizide.

Sie schreiben, dass der mutmaßliche Täter mal beim Rauchen auf dem Schulhof erwischt worden sei. Wütend über die Strafe, habe er einen Pavillon und zwei Bäume auf dem Schulhof niedergebrannt. Wenn das wahr ist, dann offenbart sich die Realität, dass dieses Kind psychische Probleme hatte. Es ist offensichtlich, dass dieses Kind, obwohl es 17 Jahre alt ist, seine Emotionen mit der Intensität eines viel jüngeren Kindes erlebt und sich nicht beherrschen kann. Es ist offensichtlich, dass dieses Kind nicht medizinisch behandelt wurde, niemand hat diesem Kind geholfen. Es ist offensichtlich, dass dieses System, den Kindern, insbesondere Flüchtlings- und migrantischen sowie marginalisierten Kindern, keine helfende Hand reicht.

Die Millionen Euro, die die Europäische Union an die türkische Regierung gezahlt hat, um Geflüchtete innerhalb der türkischen Grenzen zu halten, hätten für genau diese Zwecke verwendet werden sollen: die Behandlung und Bildung von Kindern, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind und durch das, was sie erlebt und gesehen haben, traumatisiert sind. Weiß jemand, wo diese Millionen Euro geblieben sind? Wer geht dieser Frage nach, wer will es wissen?

Es wäre der Job von Journalist*innen, dieser Frage nachzugehen. Aber es ist einfacher, auf einem 17-jährigen Kind mit Migrationshintergrund herumzutrampeln, als einer autoritären Regierung schwierige Fragen zu stellen. So tritt man gleichzeitig auch die Prinzipien dieses Berufs mit den Füßen.

Solidarität darf nicht selektiv sein

Die Türkei unterscheidet sich da nicht sehr von Deutschland. Auch hier wollen die Medien oft vermeintlich ausländische Täter*innen skandalisieren und rassistische Hetze lostreten, statt Daten, Fakten und Zusammenhänge darzulegen und zu Lösungen beizutragen. Unsere Aufgabe als Gesellschaft sollte es aber sein, jede Form von Gewalt, egal wo und egal wann, zur roten Linie zu machen. Nicht nur, wenn die Täter*innen vermeintlich andere sind. Wir müssen reagieren, uns zusammenschließen und einander Kraft geben. Nicht nur, wenn geflüchtete Kinder Straftaten begehen, sondern auch, wenn sie Rassismus ausgesetzt sind oder Probleme beim Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Die Krisen weltweit spitzen sich zu, und wenn wir sie überstehen wollen, müssen wir endlich lernen, wie Solidarität funktioniert. Und Solidarität muss für alle gelten. Für selektive Solidarität gibt es bereits einen Begriff: nämlich Vetternwirtschaft.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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