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Die große Minderheit

Fast ein Fünftel der US-Bevölkerung sind Latinos. Sie werden diskriminiert und ausgegrenzt – und gleichzeitig als politische Größe umworben. Ein Blick auf eine vielseitige Community.

Menschen demonstrieren am 1. Mai 2023, dem Internationalen Tag der Arbeit, bei einem Protest in New York.
Hunderte Menschen, davon eine große Anzahl Arbeiter*innen aus der Latino-Bevölkerung, demonstrieren am 1. Mai 2023 in New York. Am internationalen Tag der Arbeit protestieren sie u.a. für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, sowie die Legalisierung von Sex-Arbeit. Foto: IMAGO / Agencia EFE

Latinos und Latinas sind die größte Minderheitengruppe in den USA. Mit über 62 Millionen stellen sie fast 20 Prozent der amerikanischen Bevölkerung, Tendenz steigend. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts kommen Menschen aus dem Süden in die USA, zunächst vor allem aus Mexiko, später auch aus Kuba, Puerto Rico, Zentral- und Südamerika. Im Norden angekommen, wurden – und werden – sie oft als billige Arbeitskräfte auf Baustellen und in der Landwirtschaft eingesetzt. Rassismus, durch europäischstämmige Amerikaner*innen ebenso wie durch den Staat und seine Vertreter*innen, gehörte von Anfang an zum Alltag der Latinos und Latinas in den Vereinigten Staaten. Sie waren durch körperliche Gewalt bis hin zum Lynchmord bedroht, durch Massendeportationen während der Großen Depression, als ihre Arbeitskraft nicht gebraucht wurde, und von Segregation, also der räumlichen Trennung von anderen Bevölkerungsgruppen.  

Latino, Latinx, Latine, Hispanic

All diese Begriffe werden in den USA für Menschen lateinamerikanischer Herkunft verwendet. Latinx ist ein geschlechtergerechter Begriff, der jedoch umstritten ist. Zum einen herrscht in der Latino-Community keine Einigkeit über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache. Zum anderen wird die Verwendung des Buchstaben X von einigen kritisch gesehen, da dieser von den spanischen Kolonialherren in die indigenen Sprachen eingeführt wurde.

Latine ist ein weitere Möglichkeit, geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, der allerdings noch nicht sehr verbreitet ist. Hispanic bezeichnet streng genommen nur Menschen aus spanischsprachigen Ländern und schließt Menschen aus dem portugiesisch-sprachigen Brasilien nicht ein. Jedoch bezeichnen sich mittlerweile zwei Drittel der Brasilianer*innen selbst als Hispanic.

Auch heute ist die Lage der Latinos in den USA nicht gut. Das durchschnittliche Vermögen von Latino-Haushalten beträgt mit 48,720 US Dollar gerade einmal etwa 20 Prozent des durchschnittlichen Vermögens weißer Haushalte. De-facto-Segregation ist weiterhin ein Problem: Wohnviertel, in denen Latinos wohnen, werden zu einem überproportional großen Anteil von Menschen der gleichen Gruppe bewohnt; auch in den Schulen spiegelt sich das wieder. Fast ein Fünftel aller Latino-Schüler*innen geht auf Schulen, deren Schüler*innen zu 90 Prozent Latino sind. Viele dieser Schulen haben wenig Geld und können den Schüler*innen so nur eine schlechtere Ausbildung anbieten. Polizeigewalt trifft Latinos stärker als Weiße; sie werden fast doppelt so häufig von der Polizei getötet. Und etwa 13 Prozent der Latinos haben keine Papiere. 

Kein Aufsehen erregen

Doch Latinos und Latinas sind nicht nur die Leidtragenden von Diskriminierung. Sie sind mittlerweile eine politische Größe, mit der in den USA die Parteien rechnen müssen. Dabei ist es für jede*n Einzelne*n oft gar nicht so einfach, sich der eigenen Lage bewusst zu werden und sich zu entschließen, politisch aktiv zu werden.  

Mario Enríquez, Sohn mexikanischer Einwanderer, der gerade für einen Sitz im Stockton City Council in Nordkalifornien kandidiert, erinnert sich: „Ich habe es erst am College gemerkt. Als meine Familie ihr Haus verlor und plötzlich alle überall verstreut waren. Ich sagte: ‚Wow, das ist wirklich hart.‘ Und mir wurde klar, dass andere, vor allem lateinamerikanische Einwanderer mit ähnlichen, wenn nicht gar schlimmeren Problemen zu kämpfen haben. Die Eltern vieler meiner Freunde waren Wanderarbeiter in der Landwirtschaft. Einige von ihnen hatten keine Papiere. Es gab also immer diese Angst, und es herrschte eine Mentalität der Geheimhaltung und des ‘Wir wollen kein Aufsehen erregen‘. Also ja, ich war am College, als ich anfing, alles zu hinterfragen und es mit eigenen Augen zu sehen, wahrscheinlich mit 18 oder 19 Jahren.“

Sí, se puede

Sí, se puede: Ja, es ist möglich (sinngemäß etwa „Yes, we can“) war der Kampfruf der mexikanischen Landarbeiterbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts.

Mittlerweile, ergänzt Mario in unserem Gespräch, gäbe es immer mehr junge Leute, die sich für ihre Rechte und die anderer einsetzen – und dafür führt er auch biographische Gründe ins Feld: „Als Kinder von Einwanderern haben wir eine Macher-Mentalität. Nicht nur, um unserer Community etwas zurückzugeben, sondern auch unserer Familie. Wir wollen unsere Eltern nicht enttäuschen, sondern ihnen zeigen, dass sich ihre Opfer gelohnt haben. Das habe ich schon immer beobachtet, aber gerade jetzt sind junge Leute besonders aktiv dabei, sich zu organisieren und Graswurzel-Initiativen zu starten.“ 

Viele der Gruppen, die sich in den Communities engagieren, bieten zum Beispiel Rechtsschutz gegen drohende Deportationen an, kämpfen für einen Mindestlohn und bessere Krankenversicherung, setzen sich für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen ein und verteidigen auch die Rechte der queeren Community. Zu diesen Initiativen gehört beispielsweise „Make the Road“, eine von Migrant*innen geführte Organisation, die in mehreren Bundesstaaten vertreten ist. 

The Latino Vote – Wen wählen Latinos? 

Es gibt außerdem eine Reihe großer progressiver NGOs in den USA, die für die Wahl mobilisieren wollen, wie Voto Latino, Latino Victory oder auch UnidosUS. Traditionell sind Latinos und Latinas eher progressiv eingestellt: Bei den Präsidentschaftswahlen 2020 wählten 65 Prozent Joe Biden und 32 Prozent Donald Trump. Seither rücken jedoch immer mehr Latinos in die Nähe der Republikaner – dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. 

Brianna Dimas, die für den American Immigration Council arbeitet und aus einer mexikanisch-US-amerikanischen Familie stammt, fasst es so zusammen: „Es ist immer die Rede von ‚The Latino Vote‘ (Die Stimme der Latinos), aber diese Stimme, unsere Kultur, ist stark gespalten. Ich komme aus Texas und meine Familie ist römisch-katholisch. Mein engster Familienkreis ist zwar sehr progressiv, aber ich habe viele andere Familienmitglieder, die sehr konservativ sind. Sogar in meiner Familie ist man sich über Politik nicht einig – ‚die Stimme der Latinos‘ im ganzen Land ist also auf keinen Fall ein monolithisches Gebilde.“

Doch die Hoffnung der progressiven Gruppen ist es, mehr Latinos zum Wählen zu motivieren – denn diese machen deutlich seltener von ihrem Stimmrecht Gebrauch als alle anderen Bevölkerungsgruppen. Sie wollen sie davon überzeugen, für eine gerechtere Politik und fortschrittliche Politik auch für die Latinx-Community an die Urne zu gehen. Aus seiner eigenen Erfahrung als Kandidat für ein politisches Amt weiß Mario Enríquez, wie schwierig das sein kann: „Man muss den Menschen beweisen, dass ihre Stimme zählt. Denn das Gefühl der Ohnmacht ist weit verbreitet. Und darum muss man zeigen, dass man sich für die Themen interessiert, die viele beschäftigen, die hohen Kosten für Benzin und Lebensmittel zum Beispiel.“

Vorurteile bekämpfen

Der Zugang zu verlässlichen Informationen ist ebenfalls ein wichtiger Teil politischer Mitsprache. Der „American Immigration Council“ geht darum gezielt gegen Desinformationen über Migration vor:

Zwei der größten Mythen, die derzeit verbreitet werden, sind Behauptungen darüber, wie einfach es ist, in die USA einzuwandern und die Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Diese Fake News werden von rechten Organisationen gezielt auch auf Spanisch verbreitet, um die 41,3 Millionen Spanisch sprechenden Menschen in den Vereinigten Staaten zu erreichen. Denn Einwanderung ist auch unter Latinos ein umstrittenes Thema. „Viele sehen nicht, wie sehr sich die Situation für Migranten geändert hat, seit ihre Familie in die USA gekommen ist.“ 

Wer darf mitentscheiden?

Auch die Frage nach Repräsentation spielt eine wichtige Rolle. Derzeit sind Latinos und Latinas deutlich weniger in der Politik vertreten als in der Bevölkerung: Nur ein Zehntel der Mitglieder des Kongresses sind hispanischer Abstammung. Das zu ändern ist ein parteiübergreifendes Anliegen geworden. Der Congressional Hispanic Caucus (der Ausschuss der Hispanics im Kongress) beispielsweise befasst sich mit dem Thema. Mario Enríquez schätzt es so ein: „Allies (Verbündete) sind wichtig, aber jemand, der bestimmte Erfahrungen persönlich durchgemacht hat, trägt noch anders zur Diskussion bei. Und wenn man Entscheidungen trifft, die sich auf eine Community auswirken, dann müssen Menschen mit am Tisch sitzen, die diese Community repräsentieren.“ 

Jetzt, im Wahljahr, sind alle diese Fragen drängender denn je. Im November wird sich zeigen, wie viele Latinos und Latinas daran glauben, dass ihre Stimme etwas ändern kann. Und wem sie zutrauen, sich für ihre Interessen einzusetzen.

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Autor*innen

Katharina Draheim ist Redakteurin bei Campact. Nach ihrem Studium in Berlin und New Orleans war sie lange für die Atlantik-Brücke tätig. Das Land auf der anderen Seite des Ozeans beschäftigt sie noch immer: Im Blog schreibt sie über die USA. Alle Beiträge

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