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Wie die Grünen wieder kämpfen lernen müssen

Lange ging die „Kretschmannisierung“ der Grünen gut, doch mit der Europawahl ist alles anders. Die Grünen müssen nun zeigen, dass sie wieder kämpfen. Wo geht das besser, als bei den anstehenden Verhandlungen zum Bundeshaushalt?

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hält eine Rede auf der 49. Bundesdelegiertenkonferenz der Partei Bündnis 90 / Die Grünen
Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hält eine Rede auf der 49. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen, Foto: IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Was für ein Kontrast: Mitte Juni steuerte Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler von den Grünen die entscheidende Stimme für das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur in Europa nach. Sie verhilft nach jahrelangem Ringen damit einem zentralen Bestandteil des europäischen Klimaschutzprogramms Green Deal zum Durchbruch und setzt sich über die Position von Kanzler Karl Nehammer hinweg. 

Keine drei Monate zuvor zeichnete sich in Deutschland ein ganz anderes Bild. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir gibt – nach monatelangen Bauernprotesten und einer gezielten rechten Diffamierungskampagne gegen Klimaschutz – in der EU grünes Licht dafür, dass Landwirte keine Flächen für Artenvielfalt schaffen müssen, wenn sie Subventionen erhalten wollen. Der zaghafte Versuch, Agrargelder nur noch an Bäuer*innen zu zahlen, die Klima- und Naturschutz voranbringen, ist damit erledigt. 

Die eine kämpft und erzielt einen grünen Erfolg mit Ausrufezeichen. Der andere schafft eine zentrale Regelung für den Klima- und Artenschutz ab, um ja nicht in der Mitte anzuecken. Um damit vermeintlich den nächsten Karriereschritt vorzubereiten: die Nachfolge von Winfried Kretschmann als grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg.

„Kretschmannisierung“ als Problem

Womit wir schon beim zentralen Problem der Grünen in Deutschland wären: der Kretschmannisierung. Mit seiner Politik hat es Ministerpräsident Winfried Kretschmann 13 Jahre lang geschafft, Baden-Württemberg als konservatives Stammland der Grünen zu halten. Doch die grüne Bilanz fällt dort erschreckend dürftig aus, egal ob es um den Ausbau der Windkraft, die ökologische Landwirtschaft oder die Verkehrswende geht. Die Devise lautet: Macht verteidigen, indem man es sich mit niemandem in der Mitte verscherzt – und dafür die Ambitionen in der Klima- und Umweltpolitik immer weiter zurückschraubt. 

Spätestens seit den Debatten um das Heizungsgesetz und die Agrardieselsubventionen scheinen auch die Bundesgrünen auf diese Linie umzuschwenken. Die Mär von rechter und rechtsextremer Seite über die verbotsbesessenen Grünen zeigt Wirkung. Seitdem trauen sich die Grünen klimapolitisch fast nichts mehr. Im aktuellen Streit zwischen SPD und FDP um den Bundeshaushalt 2025 sind die Grünen abgetaucht – erstarrt in der Angst, für die Mitte nicht mehr anschlussfähig zu sein. 

Einzig: Das grüne Schwimmen mit dem Strom hat auch das dramatische Ergebnis der Europawahlen nicht verhindern können – es ist sogar ein zentraler Grund dafür. Bundesweit erzielten die Grünen nur noch 11,9 Prozent der Stimmen. Weit über acht Prozentpunkte weniger als bei der letzten Wahl. Und noch brutaler: minus 23 Prozent bei den Erstwähler*innen. 

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Woher kommt dieser Einbruch? Bei der eigenen Basis, den Kernwähler*innen, ging die Kretschmannisierung lange gut. Denn egal, wie schlecht die Grünen wieder einmal in der Koalition verhandelt hatten: Es gab keine wählbare Alternative. Statt die Grünen mit ihrem Kosmopoliten Habeck zu wählen, die Linke mit ihrer Linksnationalistin Wagenknecht? Für viele undenkbar. 

Neuer Stern am Klimahimmel?

Mit der Europawahl ist alles anders. Ein neuer Stern strahlt am Klimahimmel: Volt. Eindrucksvolle, hippe Plakate. Junge Kandidat*innen. Ganz viel Klimaschutz im Programm. Alles schillernd, zumindest so lange man nicht ins Kleingedruckte schaut und dort Pro-Atomkraft und Pro-Gentechnik-Aussagen und so manche eher neoliberal anmutende Position entdeckt.

Wem das nicht passt, der kann aber auch andere Parteien wählen: die Tierschutzpartei, die Partei, die ÖDP, ja sogar die Letzte Generation. Und auch die Linke wirbt mit viel Klimaschutz, seitdem Carola Rackete – und nicht mehr Sahra Wagenknecht – ihre Frontfrau ist. Rechnet man alle zusammen, kommt man auf 7,6 Prozentpunkte, die die Grünen bei der Europawahl verloren haben. Die Kernwählerschichten sind den Grünen in Scharen davongelaufen – sei es wegen der vielen Kompromisse, sei es wegen der Verzagtheit oder den Niederlagen der Grünen beim Klimaschutz in der Ampelregierung.

Noch eklatanter ist das Ergebnis bei den Erstwähler*innen – eigentlich die Bastion der Grünen. Hier kommen sie nur noch auf elf Prozent und liegen damit einen Prozentpunkt unter dem Gesamtergebnis. Viele „Kleinparteien“ hingegen sind in dieser Alterskohorte gar keine mehr: Neun Prozent erhält dort Volt, die Linke sieben, Die Partei vier und die Tierschutzpartei drei. Zusammen 23 Prozent – was genau den Prozentpunkten entspricht, die die Grünen im Vergleich zur Europawahl vor fünf Jahren bei den Erstwähler*innen verloren haben.

Markenkernpflege als Notwendigkeit

Seitdem hat die Kretschmannisierung ein Problem. Und der Klima- und Naturschutz in der Ampel womöglich wieder bessere Karten. Denn wollen die Grünen bei der Bundestagswahl nicht ein ähnlich desaströses Ergebnis einfahren, müssen sie ihre Ex-Wähler*innen den ganzen Klein- und Kleinstparteien abspenstig machen. Und Erstwähler*innen wieder für sich gewinnen. Damit stehen sie vor der Notwendigkeit einer grundlegenden Wende: wieder mehr ihren Markenkern zu pflegen, den Klima- und Naturschutz.

Keine Kompromisse beim Bundeshaushalt 2025

Wo können die Grünen jetzt zeigen, dass sie wieder kämpfen? Bei den Verhandlungen zum Bundeshaushalt 2025. Viele Milliarden drohen beim Klima- und Transformationsfonds und im Gesamthaushalt eingespart zu werden. Milliarden, die für die Wärmewende, erneuerbare Energien, neue Bahnstrecken oder den natürlichen Klimaschutz unverzichtbar sind. Robert Habeck muss hier endlich beweisen, dass er nicht nur kommunikative Stärke, sondern auch Verhandlungsgeschick und Durchsetzungskraft besitzt. 

Entschieden für Klima- und Naturschutz kämpfen, statt immer nur jeden Kompromiss zu schlucken. Heißt das, die Grünen sollen nach links rücken und die Mitte aufgeben? Nein, auch dort haben sie verloren und müssen Boden gut machen. Aber das wird ein langer Prozess, kurzfristig ist hier wenig zu holen. Zu tief ist die rechtspopulistische Kampagne bis in die Mitte der Gesellschaft auf Resonanz gestoßen, die Grünen würden mit Verbotsorgien und Bevormundung große Teile der Bevölkerung ideologisch gängeln. Und es gab auch die berechtigte Kritik, dass die Grünen gerade in der Debatte ums Heizungsgesetz zu wenig Sensibilität gegenüber den Abstiegsängsten breiter Bevölkerungskreise und zu wenig Gefühl für die weniger Privilegierten im Land gezeigt hätten. 

Hier wieder Vertrauen zurückzugewinnen, wird den Grünen vor allem über konkrete Politikergebnisse gelingen. Und genau hier haben sie in den nächsten Wochen eine große Chance: Sie müssen sich klar gegen einen Sparhaushalt bei Klima- und Naturschutz sowie im sozialen Bereich stellen. Weit lauter in der Öffentlichkeit vor den Verhandlungstüren auftreten und ebenso energisch hinter diesen. Viele ihrer ehemaligen Wähler*innen wollen die Grünen mehr kämpfen sehen. Die kommenden Wochen sind dafür prädestiniert.

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Autor*innen

Christoph Bautz ist Diplom-Biologe und Politikwissenschaftler. Er gründete 2002 gemeinsam mit Felix Kolb die Bewegungsstiftung, die Kampagnen und Projekte sozialer Bewegungen fördert. 2004 initiierte er mit Günter Metzges und Felix Kolb Campact. Seitdem ist er Geschäftsführender Vorstand. Zudem ist er Mitglied des Aufsichtsrats von WeMove, der europaweiten Schwesterorganisation von Campact, sowie der Bürgerbewegung Finanzwende. Alle Beiträge

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