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NSU-Terror: Aufarbeitung in der Nische

Mehr als zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU läuft die Aufarbeitung noch immer lückenhaft. Und zugleich wird die rechtsextreme AfD verharmlost.

Am Tag vor dem 19. Todestag von Simsek wurde im Schwanenteichpark durch die Stadt Zwickau eine Deutsche Eiche zum Gedenken gepflanzt. Eine kleine Tafel vor dem Baum erinnert ebenfalls an das erste Mordopfer des NSU aus Zwickau.
Am Tag vor dem 19. Todestag von Simsek wurde im Schwanenteichpark durch die Stadt Zwickau eine Deutsche Eiche zum Gedenken gepflanzt. Eine kleine Tafel vor dem Baum erinnert an das erste Mordopfer des NSU aus Zwickau. Foto: IMAGO / HärtelPRESS

Semiya Şimşek-Demirtas hat ein sehr gebrochenes Verhältnis zu Zwickau. Sie war noch nie in der südwestsächsischen Stadt, in der die Mörder:innen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) elf Jahre lang unentdeckt Unterschlupf fanden. Sie war 14, als ihr Vater, der Blumengroßhändler Enver Şimşek, im September 2000 in Nürnberg das erste von insgesamt zehn Opfern der NSU-Mordserie wurde. „Ich dachte immer, das ist so ein brauner Sumpf“, sagte Semiya Şimşek-Demirtas jetzt in einer Videobotschaft über Zwickau. Sie habe sich nie getraut, dorthin zu kommen und habe „viele Probleme mit Zwickau“.

Ende Oktober könnte sich das ändern. Und den Anlass für diese Versöhnung, für den geplanten ersten Besuch von Şimşek-Demirtas in Zwickau, gibt eine neue Ausstellung „Zwickau und der NSU. Auseinandersetzung mit rechtsextremen Taten“. Das mit dieser Schau verbundene Bekenntnis, sich endlich klar zur Verantwortung zu bekennen. Die Ausstellung wurde, wohl nicht ganz zufällig, am vergangenen Sonntag, dem Tag der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, eröffnet – ein Signal gegen den Rechtsruck. Der, wie sich bitter zeigte, an den Wahlurnen dann doch nicht aufgehalten werden konnte.

Ausstellung erst in Zwickau, dann unterwegs

Bis zum 4. November, dem Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU 2011, wird auf Schautafeln in den Priesterhäusern Zwickau gezielt die Opferperspektive in den Mittelpunkt gerückt. Später soll die Ausstellung auf Wanderschaft gehen. Man kennt die Namen der Täter:innen: Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt. Aber kaum jemand kann die Namen der Opfer aufzählen. Wichtige Zusammenhänge werden in der Ausstellung beschrieben: zum Bombenanschlag beim Oktoberfest 1980 in München, den rassistischen Ausschreitungen 1991 und 1992 in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, den Brandanschlägen in Mölln 1992 und Solingen 1993, der rassistischen Mordserie 2020 in Hanau.

„Das NSU-Kerntrio hatte zahlreiche direkte und indirekte Kontakte zur Neonazi-Szene in ganz Deutschland“, heißt es in der Ausstellung. Doch weder der NSU-Prozess noch die zahlreichen Untersuchungsausschüsse hätten das erweiterte Netzwerk der Helfer:innen vollständig aufdecken können. Es sei keine Phantasie und kein Größenwahn, wenn der NSU sein Bekennervideo mit der Feststellung beginne: „Der nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden.“

Es mache sie wütend, wie lückenhaft die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen erfolgt sei, sagt Semiya Şimşek-Demirtas. Dass gegen die Helfershelfer, in Nürnberg, Zwickau, nicht ermittelt werde; „gegen sie wird bewusst nicht ermittelt“. Nicht geklärt worden sei, wie die Täter:innen jahrelang untertauchen konnten. Sie warnt: „Denn wenn wir nicht aufarbeiten, werden diese Taten nochmal passieren.“

In der Mitte der Gesellschaft

Die bis heute fortbestehenden Netzwerke der rechtsextremen Szene sollten dabei eine wichtige Rolle spielen. Neben der AfD, die in der Ausstellung bedauerlicherweise gar nicht erwähnt ist, sind in Zwickau drei weitere rechtsextreme und neonazistische Parteien aktiv: Die Heimat, also die frühere NPD, die Freien Sachsen sowie Der III. Weg, letzterer sogar mit einer Immobilie vor Ort. „Für die lokale rechtsextreme Szene gilt der Bezug zum NSU keineswegs als Tabu“, heißt es auf einer Schautafel.

Welche Gesellschaft ist das, die Rechtsterrorismus wie den des NSU hervorbringt? Diese Frage will Piotr Kocyba vom Else-Frenkel-Brunswik-Institut an der Universität Leipzig beantwortet wissen. Er ist einer der Macher der Ausstellung.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass sich der NSU nicht ohne Kontext bilden konnte.

Piotr Kocyba vom Else-Frenkel-Brunswik-Institut

Dass alles „kein Zufall“ sei. Zu dieser Analyse gehört für ihn auch, dass mit der AfD eine rechtsextreme Partei „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ sei. Und dass die Aufklärungsarbeit zum rechten Terror immer noch zu sehr in der Nische stecke. In Sachsen wird sie aus Sicht Kocybas maßgeblich von den Grünen initiiert, die jedoch aller Voraussicht nach aus der Landesregierung fliegen.

NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz

Eine Woche vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen hielt die Schriftstellerin Anne Rabe eine Rede in Weimar, in der sie auf einen Zusammenhang in Bautzen hinwies. Dort sitze als einer der Vertreter der Reichsbürgerpartei Freie Sachsen „ein stadtbekannter Neonazi“ im Kreistag, Benjamin Moses. Er habe kürzlich auf Instagram dazu aufgefordert, man möge doch an „unsere Gefangenen“ denken und sich zehn Minuten Zeit nehmen, um ihnen einen Brief zu schreiben. „Im Hintergrund liegt ein Briefumschlag, der an den verurteilten NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben adressiert ist“, sagte sie in ihrer Rede. Und: „Mir geht die Poesie abhanden, wenn die Wirklichkeit so verrutscht.“

Zwickau hat nun mit einer Ausstellung eine Hausaufgabe gemacht. Und in Chemnitz soll im kommenden Jahr das Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex entstehen. Das ist alles schön und gut. Aber es ist zu wenig, wenn der rechte Terror nur als Kapitel in der Geschichte abgehandelt wird. Wenn Björn Höcke im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zeitgleich die AfD als „Volkspartei Nummer eins“ stilisieren darf. Wenn Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sich feiert, weil seine CDU am Sonntag marginal besser abgeschnitten hat als die AfD. Wenn er deren Wähler als „Protestwähler“ verharmlost. Und als Konsequenz aus den AfD-Erfolgen dafür plädiert, den Begriff „Brandmauer“ nicht mehr zu verwenden. Die AfD sei eine Partei wie jede andere, „mit allen Rechten und allen Pflichten“. Die Lehren aus dem NSU-Terror werden nicht gezogen, wenn die extreme Rechte so normalisiert wird.

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Autor*innen

Matthias Meisner ist freier Journalist und Buchautor in Berlin und Tirana. Er schreibt über Menschenrechte, Geflüchtete und die Bedrohung der Demokratie. Zuletzt erschien 2023 im Herder-Verlag, gemeinsam herausgegeben mit Heike Kleffner, „Staatsgewalt – wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern“. Infos unter www.meisnerwerk.de. Alle Beiträge

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