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Niemand steht über dem Gesetz

Dass der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle erlässt, ist nicht ungewöhnlich. Doch dass er beide Kriegsparteien betrifft, ist neu. Die Haftbefehle gegen den Hamas-Chef Deif und den israelischen Premier Netanjahu lösen eine Debatte aus und bringen einige Staaten, auch Deutschland, in Bedrängnis.

Karim Kahn, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, bei der Pressekonferenz zur Verkündung der Haftbefehle gegen u.a. Israel-Premier Netanjahu, Ex-Verteidigungsminister Galant und Hamas-Anführer Deif. Foto: IMAGO / UPI Photo
Karim Kahn, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (Mitte), bei der Pressekonferenz zur Verkündung der Haftbefehle gegen u.a. Israel-Premier Netanyahu, Ex-Verteidigungsminister Galant und Hamas-Anführer Deif. Foto: IMAGO / UPI Photo

Schlag auf Schlag in Den Haag: Gerade erst hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen den israelischen Premier Benjamin Netanjahu, Ex-Verteidigungsminister Joaw Galant und Hamas-Anführer Mohammed Deif erlassen. Kurz darauf beantragte Chefankläger Karim Khan einen Haftbefehl gegen Myanmars Junta-Anführer Min Aung Hlaing.

Nun werden die Haftbefehle zu einer Prüfung dafür, welche Staaten sich dem Völkerrecht tatsächlich verpflichtet fühlen. Während das Vorgehen gegen Myanmars Junta-Chef und Hamas-Führer Deif auch von westlichen Staaten einhellig begrüßt wurde, ist die Reaktion bei Netanjahu und Galant weniger eindeutig. Die USA kritisierten die Haftbefehle, ohne auf ihre Begründung einzugehen. Viktor Orbán lud Netanjahu demonstrativ nach Ungarn ein und versicherte, dort drohe ihm keine Verhaftung. Dieses Verhalten ist brandgefährlich. Wer soll sich künftig an eine internationale Ordnung halten, wenn diese nicht für alle gilt? Sowohl für jene, die das Baby Kfir Bibas und andere israelische Kinder entführt und getötet haben, als auch für diejenigen, die das Hungern und Sterben unzähliger Kinder in Gaza (deren Namen man seltener kennt) zu verantworten haben?

Lena Rohrbach ist Fachreferentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter und Rüstungsexportkontrolle bei Amnesty International Deutschland.

Haftbefehle zusammen ausgesprochen

Die Haftbefehle stellen Deutschland vor eine Prüfung. Positiv formuliert: Seit dessen Gründung 1945 unterstützt Deutschland den IStGH. Weniger positiv: Durch zwei Weltkriege und den Holocaust hat deutsches Handeln furchtbar (im wahrsten Sinne des Wortes) gute Gründe dafür geliefert, Völkerrecht weiterzuentwickeln und internationale Gerichtshöfe zu schaffen. Diese Geschichte begründet zugleich eine besondere Verantwortung für jüdisches Leben. Ein Dilemma? Keineswegs. Die Solidarität mit der israelischen Zivilgesellschaft wird nicht davon geschmälert, die Verbrechen eines Regierungschefs anzuerkennen, gegen den eben diese Zivilgesellschaft regelmäßig auf die Straße geht.

Auch der Vorwurf, die Haftbefehle setzten israelische Amtsträger und Hamas-Funktionäre gleich, ist falsch. Diese werden unterschiedlicher Vergehen beschuldigt. Die zeitgleiche Ausstellung erklärt Chefankläger Khan mit einem Gedankenexperiment: Ein Haftbefehl zuerst nur gegen israelische Amtsträger hätte Antisemitismus-Vorwürfe nach sich gezogen, ein Haftbefehl bloß gegen Hamas-Funktionäre den Eindruck erweckt, der Gerichtshof sei ein Instrument von Staaten des Westens und ignoriere die Toten in Gaza.

Kriegsverbrechen auf beiden Seiten

Dem Hamas-Führer Deif werden für das Massaker vom 7. Oktober 2023 unter anderem Mord, Folter, Ausrottung, Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt und Geiselnahme vorgeworfen. Neben Kriegsverbrechen umfassen die Vorwürfe auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die „Teil eines weitreichenden und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung von Israel“ gewesen seien.

Netanjahu und Galant werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, die ebenfalls „Teil eines weitreichenden und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung von Gaza“ seien. Dazu gehören „Aushungerung der Zivilbevölkerung als Kriegsmethode“ und „absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung.“ Es seien „Lebensbedingungen geschaffen [worden], die darauf abzielten, die Zerstörung eines Teils der Zivilbevölkerung in Gaza herbeizuführen.“ Sie hätten außerdem ohne militärische Notwendigkeit humanitäre Organisationen behindert und seien für „extremes Leiden“ verantwortlich, etwa für Amputationen an durch Bombenabwürfe verletzten Kindern ohne Betäubungsmittel, da sie absichtlich medizinische Hilfslieferungen blockierten.

Außenministerin Annalena Baerbock hat bereits die Verpflichtung Deutschlands anerkannt, alle Personen festzunehmen, gegen die ein Haftbefehl vorliegt: „Die Bundesregierung hält sich an Recht und Gesetz, weil niemand über dem Gesetz steht.“

Ein Friedhof der internationalen Ordnung

Ein Haftbefehl ist ein Haftbefehl, kein Haftwunsch oder unverbindlicher-Haft-Vorschlag. Wer ihn ignoriert, beschädigt das Völkerrecht. Das sind immerhin die grundlegenden Spielregeln für das Zusammenleben auf diesem Planeten. Sie formulieren Minimalstandards, etwa: Wenn ihr schon unbedingt Krieg führen müsst, tötet Zivilist*innen wenigstens nur dann, wenn es militärisch verhältnismäßig ist. Wie gesagt: Minimalstandards. Das Völkerrecht ist keine Sammlung utopischer Regeln für Romantiker, wie es derzeit manchmal dargestellt wird. Im Gegenteil: Es sind Lehren aus den dunkelsten Stunden der Menschheit. Deutschland, für besonders dunkle Stunden verantwortlich, hat eine besondere Verantwortung.

Chefankläger Khan formuliert es so: „Wenn wir nicht garantieren können, dass ein schwarzes Leben genauso viel zählt wie ein weißes, dass Gläubige und Nichtgläubige, Christen, Juden, Muslime die gleichen Rechte haben, ist es unsere Schuld, wenn die Ordnung zerfällt.“ Umgekehrt kann vielleicht verspieltes Vertrauen in die Gerechtigkeit internationaler Ordnung wiederhergestellt werden, wenn westliche Staaten zeigen, dass sie sich an die gemeinsamen Regeln halten. Gaza sei ein Friedhof der internationalen Ordnung, heißt es. Zeit für ihre Auferstehung.

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Autor*innen

Lena Rohrbach ist Referentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter und Rüstungsexportkontrolle bei Amnesty International. Sie hat als Campaignerin für Campact und im Journalismus gearbeitet und war Sprecherin der Piratenpartei. Lena hat Philosophie, Kulturwissenschaft und Geschichte in Berlin und International Human Rights Law an der University of Nottingham studiert. Auf Twitter ist sie als @Arte_Povera unterwegs. Alle Beiträge

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