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Anstand! Eine Polemik

Was hat ein Putschversuch am 23. Februar 1981 in Spanien mit Julian Reichelt und der deutschen Demokratie zu tun? Die Antwort liegt im Bekenntnis zur Demokratie und in einem angestaubten Begriff, der gerade eine überraschende Reise quer durch das politische Spektrum antritt: Anstand.

Das spanische Abgeordnetenhaus (Congreso de los Diputados) in Madrid, in welchem am 23. Februar 1981 Geschichte für Spanien und die Demokratie geschrieben wurde. Im Sitzungssal sind noch heute die Einschusslöcher zu sehen, die während des Putsches entstanden sind.
Das spanische Abgeordnetenhaus (Congreso de los Diputados) in Madrid, in welchem am 23. Februar 1981 Geschichte für Spanien und die Demokratie geschrieben wurde. Im Sitzungssal sind noch heute die Einschusslöcher zu sehen, die während des Putsches entstanden sind. Foto: IMAGO / imagebroker

Ich glaube: Julian Reichelt ist nicht dumm. Da, ich hab’s tatsächlich gesagt. Was für ein Auftakt zu einem Blogsegment, das sich mit Gedenktagen und Erinnerungskultur befasst. Am Ende dieses Textes werden wir bei einem spanischen Putsch und dem Rückgrat der Demokratie angekommen sein, versprochen. 

Die Bro-Bubble

Aber vorher nehmen wir einen kleinen Umweg über Julian Reichelt. Politisch werden wir auf keinen grünen Zweig kommen, aber man(n) wird nicht zum Bild-Chefredakteur ohne ein bisschen Hirn. Umso überraschender, wenn seine rechte Nachrichtenschleuder Nius (wie auch sein ehemaliger Arbeitgeber BILD) folgendes behauptet: Die aktuellen Proteste gegen Friedrich Merz und seinen AfD-Kuschelkurs werden angeblich von der Regierung finanziert. Das stimmt nicht. Und dass es nicht stimmt, ist leicht nachprüfbar. Da auch Campact von diesen Behauptungen betroffen ist, haben wir hier erklärt, warum das Blödsinn ist. 

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Warum also behauptet Reichelt so etwas – obwohl ich mir sicher bin, dass er es besser weiß? Etwas, das die Grenzen politischen Framings überschreitet und stattdessen auf aktive Falschinformation setzt? Das zu erwartende rechte Framing der aktuellen Protestwelle könnte ungefähr so aussehen: Diese woken Linken wollen ihre woke linke Ideologie verbreiten und organisieren dafür Demos – zugespitzt, einseitig, große Teile der Protest-Teilnehmer*innen ignorierend, aber im Kern ohne Falschinformation. Stattdessen legen Reichelt und die BILD noch eins drauf und behaupten Dinge, von denen schon im letzten Jahr sogar gerichtlich bestätigt wurde, dass sie falsch sind. Warum?

Vielleicht hat es etwas mit dem Phänomen zu tun, dass Angela Merkel in einem Spiegel-Interview grob paraphrasiert als „Winner takes it all“-Prinzip benennt und das Reichelts Bro-Bubble aus neoliberalen Business-Typen, rechten Medienschaffenden und hegemonialen Alpha-Männchen gut umreißt. In diesem System geht es nicht um Dialog, jeder versucht nur, das Maximum für sich rauszuholen. Klicks, Abos, Reichweite, das Image des härtesten Pöbel-Knabens – dazu ist jedes Mittel recht. Aber was bedeutet diese Mentalität für unsere Gesellschaft, für unsere Demokratie?

Anstand – das Gegenteil von Disruption

Um diese Frage zu beantworten, wird es Zeit, ein höchst unpopuläres Schlagwort aus dem Schrank zu holen: Anstand! Anstand – das klingt nach Opa, nach uncool, nach dem Gegenteil von Rebellion, Aufbruch, Progressivität. Nach einer Standpauke, wenn man mit 17 verkatert nach Hause kommt. Nach Reihenhaus und Sonntagsbraten. Dabei hat dieser Begriff inzwischen politisch die Seiten gewechselt – von piefigem Konservatismus zu dem gemeinsamen Nenner, den die aktuell Protestierenden von der Merz-CDU fordern. Anstand bedeutet: Respekt und Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten von anderen – quasi das genaue Gegenteil von Reichelts Winner-takes-it-all-Bro-Bubble. 

Denn neben der 1950er Spießigkeit impliziert Anstand: die Bereitschaft, das eigene Verhalten danach anzupassen, ob ich dabei etwas irreparabel beschädige; die Bereitschaft, sich an moralische Normen zu halten. Dass Progressive gerade den Anstand für sich beanspruchen, passt gut zu einer weiteren überraschenden Begriffsverschiebung im politischen Spektrum: Hunderttausende, von denen viele sich wahrscheinlich nicht als politisch konservativ beschreiben würden, gehen aktuell für den Schutz und die Bewahrung der Demokratie auf die Straße – quasi als „Konservative“ im Wortsinn, die unsere institutionelle Ordnung vor Kräften schützen wollen, die sie entweder zersetzen (AfD) oder ihre Beschädigung zumindest in Kauf nehmen (Friedrich Merz und große Teile seiner CDU). What a time to be alive.

Bei der CDU scheinen Maß und Mittel gerade gehörig verrutscht – wie bei der Reichelt-Bro-Bubble scheint markiges Auftreten und persönliches Branding die politische Integrität in der Prioritätenliste überholt zu haben. Dabei braucht eine Demokratie – Überraschung! – dringender als vieles andere überzeugte Demokrat*innen. Politiker*innen, die den Schutz fundamentaler Werte und Prinzipien über ihren persönlichen Machtzuwachs stellen. Selbst, wenn dazu Werte gehören, die eher nicht im Verdacht stehen, den TikTok-Algorithmus zu füttern: Kompromissbereitschaft, Respekt und, ja, Anstand

Demokratie verteidigen auf Spanisch

Was hat das alles mit Spanien zu tun? Heute vor 44 Jahren, am 23. Februar 1981, versuchten spanische Militärs und Angehörige der Guardia Civil, die demokratische Regierung zu stürzen. Die Putschisten machten sich Hoffnung auf Erfolg, weil sie darauf bauten, dass sowohl der spanische König als auch die Konservativen im Parlament unzufrieden mit den demokratischen Reformen der Post-Franco-Ära waren. Der Gedanke war nicht aus der Luft gegriffen: Monarchen und nationalistische Politiker*innen, die bis vor kurzem einem faschistischen Diktator gedient hatten, könnten schon etwas daran auszusetzen haben, sich selbst zugunsten einer noch jungen Demokratie zu schwächen. Aber der Putsch-Plan scheiterte, weil seine Planer*innen eines unterschätzt hatten: Die Bereitschaft des Königs und auch konservativer Politiker*innen, demokratische Werte über persönliche Gewinne zu stellen. Was also war geschehen? 

Anfang 1981 war die junge spanische Demokratie von Inflation, hoher Arbeitslosigkeit und Terroranschlägen gebeutelt. Ministerpräsident Adolfo Suárez trat zurück. Am 23. Februar kamen die Abgeordneten zusammen, um seinen Nachfolger zu wählen, als bewaffnete Gardisten unter Führung des Oberstleutnants Antonio Tejero das Parlament stürmten. Tejero zog sein Gewehr, Soldaten schossen in die Decke und forderten die Volksvertreter auf, sich auf den Boden zu legen. Doch drei Männer blieben sitzen: Ministerpräsident Suárez, der kommunistische Abgeordnete Santiago Carrillo – und Manuel Gutiérrez Mellado, ein ehemaliger franquistischer General. Drei Menschen von entgegengesetzten Seiten des politischen Spektrums setzten für die Demokratie ihr Leben aufs Spiel. 

Halbloyale Demokraten

In diesem Putschversuch zeigt sich ein wesentlicher Charakterzug stabiler Demokratien: Sie werden von überzeugten Demokrat*innen gestützt. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen dabei nicht nur die eindeutig antidemokratischen Kräfte, sondern auch „halbloyale Demokraten“. Diese halbloyalen Demokraten geben sich den Anschein respektabler Politiker*innen, fahren in ihrem Handeln aber zweigleisig: Einerseits sprechen sie sich öffentlich für die Demokratie aus, andererseits schauen sie weg, wenn antidemokratischer Extremismus erstarkt. Die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt formulieren es so

Demokratien geraten in Schwierigkeiten, wenn etablierte Parteien autoritäre Extremisten tolerieren, stillschweigend dulden oder schützen – wenn sie dem Autoritarismus den Weg ebnen. Tatsächlich war die Kooperation zwischen autoritären Kräften und scheinbar respektablen halbloyalen Demokraten in der Geschichte stets ein Vorbote des Zusammenbruchs der Demokratie.

Solche halbloyalen Kräfte spielen eine große Rolle, wenn es um die Normalisierung extremistischen Gedankenguts geht: Durch ihre Rückendeckung gewinnen extremistische Parteien an Legitimität und ihre Vertreter werden als „normale“ Politiker*innen wahrgenommen. Kommt einem das bekannt vor … ?

Ein schmaler Grat

In aller Klarheit: Ich glaube nicht, dass die komplette CDU Anfang 2025 eine solche halbloyale Kraft ist. Aber gewisse Tendenzen bereiten mir Sorge. Die Bereitschaft, Extremist*innen als Mehrheitsbeschaffer zu nutzen, anstatt kompromissbereit in Gespräche mit demokratischen Parteien zu gehen. Gleichzeitig öffentlich abzustreiten, dass irgendetwas am Paktieren mit Rechtsextremen problematisch sein könnte (oder, dass überhaupt eine Zusammenarbeit stattgefunden hätte). Die anhaltende Diskreditierung von allen, die dieses Vorgehen kritisieren (was in diesem Fall besonders absurd ist, weil auch zahlreiche Konservative sich den Protesten anschließen). 

Merz wandelt auf einem schmalen Grat – und sein aktuelles Handeln zeigt, dass er den Boden unter den Füßen verliert. Sein Vorgehen lässt Integrität, Kompromissbereitschaft und Anstand vermissen und ist gefährlich nah am rücksichtslosen „Jedes Mittel recht“-Mackertum der Bro-Bubble. Von Julian Reichelt erwarte ich inzwischen nichts mehr – aber vom Chef der größten deutschen Partei schon! Darum hier ein Ratschlag, von dem ich nie gedacht hätte, ihn jemals zu erteilen: Kann sich die CDU-Führung eine Scheibe von den spanischen Konservativen abschneiden? Bitte!

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Autor*innen

Victoria Gulde ist seit 2018 Campaignerin bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechtsextremismus setzt sie sich gegen die Normalisierung rechten Gedankenguts ein. Sie hat Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Internationale Beziehungen studiert. Für den Campact-Blog schreibt sie über Gedenktage und die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur. Alle Beiträge

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