AfD CDU Demokratie Rechtsextremismus
Bruch des demokratischen Konsens
Statt im Ernstfall eine offene Debatte zuzulassen, hätten sich die demokratischen Parteien von der emotionalisierten Debatte treiben lassen. Der Tabubruch sei somit nur der letzte Schritt einer absehbaren Entwicklung. Ein Kommentar von Andreas Speit zur aktuellen politische Lage.

Fans halten beim Spiel FC St. Pauli gegen FC Augsburg in Hamburg am 1. Februar 2025 ein Banner hoch, auf dem steht: "Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen." Der Satz ist ein Zitat der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano. Foto: IMAGO / Torsten Helmke
Von der eleganten Fassade der CDU-Parteizentrale lächelt auf einem großflächigen Werbebanner der CDU-Kanzlerkandidat. Vor dem Gebäude in Berlin demonstrierten gestern an die 250.000 Menschen. Der Tabubruch von Friedrich Merz, im Bundestag mithilfe der AfD einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik durchzusetzen, löst nicht nur am Sonntag Proteste aus. In Hamburg standen in der Innenstadt am Samstag etwa 80.000 Demonstrierende wegen der CDU und AfD auf den Straßen. Im Millerntor-Stadion hielten am Samstag Fans des FC St. Pauli ein Transparent mit einer Mahnung der Ausschwitz-Überlebenden Esther Bejarano hoch: „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.“ Auf Schildern bei den Demonstrationen stand „Kein Merz im Februar“ und „Lieber Merz-los als Herz-los“. „Wir sind die Brandmauer“ war auch das Credo bei Kundgebungen in Köln, Saarbrücken, Bonn und Leipzig.
Populismus statt politischer Kompetenz
Der Kanzlerkandidat versucht derweil den Bruch mit dem demokratischen Konsens der bundesdeutschen Republik wegzulächeln. Freundlich lachen, einfach weitermachen, möchte ebenso die CDU-Bundesführung. Wie sollte die Parteiführung auch sonst reagieren? Die Partei hat Merz als Kanzlerkandidat gewollt, die Führung wurde vom Antrag nicht überrascht. Sie alle wissen, was sie tun – und was sie wollen. Der Antrag war kein Ausrutscher, die weitere Ausgrenzung und anhaltende Aufteilung zwischen den vermeintlich „Fremden“ und den angeblichen „Wir“ wird angestrebt.
Vor gut einem Jahre protestierten in West und Ost, Nord und Süd über hunderttausend Menschen gegen Rechtsextremismus. Der Auslöser: Ein Treffen in Potsdam, bei dem AfDler, CDU-Mitglieder und Unternehmer*innen mit dem österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner über „Remigration“ diskutierten. Bei den Protesten in den Städten und Gemeinden warnten Redende oft vor einer aufgeheizten Diskussion um eine Verschärfung der Einwanderungs- und Asylpolitik. Die SPD wollte diese Kritik nicht immer hören. Die Grünen hielten sich auffallend zurück.
Der Anschlag in Solingen und das Attentat in Magdeburg mit vielen Toten und Verletzten löste dann aber einen Überbietungswettbewerb in der Abschiebedebatte aus. Merz forderte, was rechtlich unzulässig gewesen wäre. Für einen Kanzlerkandidaten kein Zeichen der Kompetenz, sondern ein Ausdruck von Populismus. Auch die Forderungen der anderen demokratischen Parteien deuteten an, dass sie alle von der emotionalisierten Debatte getrieben werden. In dieser Diskussion werden die Opfer und ihre Familien und Freunde letztlich nicht gedacht und geachtet, sondern politisiert und instrumentalisiert.
Debatte missachtet tatsächliche Opfer
Knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl steht die Agenda. Kein anderes Thema dürfte den Wahlkampf so bestimmen. Die AfD mit ihrer Spitzenkandidatin Alice Weidel braucht nur noch auf die vermeintliche Handlungsunfähigkeit der anderen Parteien bei der „Abschiebung“ hinzuweisen. Sie wird betonen, dass sie diese Entwicklung schon immer kommen sahen, ihre Forderungen nun übernommen werden und sie vermeintlich zu Unrecht als rassistisch bezeichnet wurden. Die Legitimation von Rassismus hat die CDU am Mittwoch vergangener Woche mit dem Antrag vorangetrieben.
Dieser Prozess läuft nicht erst seit der vergangenen Woche. In der Vergangenheit fehlte den demokratischen Parteien der Mut zu einer offenen Debatte, wenn es zu Straftaten von Menschen mit Migrationsgeschichte kam. Das missachtet nicht nur die Opfer dieser Taten. Es bedient auch die Ausgrenzungs- und Abschiebungs-Reflexe, statt Integrations- und Förder-Projekte einzufordern. Diese hatte gerade die CDU auf verschiedenste Ebenen immer wieder torpediert.
Die Sorgen der überwiegend weißen Mehrheitsgesellschaft wurden nicht entkräftet, sondern verstärkt. Diesen Kipppunkt verantworten Politik und Medien. Sie kamen dem Agenda-Setting der AfD entgegen; spielten einer regressiven Alternative zu, statt selbst eine progressive Alternative anzubieten. Das suggerierte Versprechen der absoluten Sicherheit ist jedoch ein populistisches Versprechen.
Bruch kündigte sich lange an
Das Feixen und Lachen, das Händeschütteln und Schulterklopfen der AfD nach der Abstimmung im Bundestag verwundert kaum. Die AfD freute sich nicht nur über die Forderungen; sie freute sich ebenso über den Antragsstellenden. Denn die AfD hat die CDU auf Bundesebene nun da, wo sie sie haben will – als vermeintlichen Bündnispartner. „Erfurt ist nicht Berlin“ hieß es aus CDU-Kreisen 2023. Denn im thüringischen Landtag hatte im September des Jahres die CDU mit Stimmen der AfD und FDP die Grunderwerbssteuer gesenkt. Merz‘ damaliger Kommentar nimmt die heutige Rechtfertigung schon vorweg: „Wir machen das, was wir in den Landtagen wie auch im Deutschen Bundestag diskutieren, nicht von anderen Fraktionen abhängig“, sagte der Kanzlerkandidat damals bei ntv.
Der Tabubruch von Mittwoch lag nicht in der tatsächlich gemeinsam errungenen Mehrheit, sondern im Wording und Positionieren dazu. Ein Leak offenbarte heute morgen, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) schon 2021 bei der AfD „tatsächliche Anhaltspunkte“ erkannte, die „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebung“ ausgerichtet sind. Das etwa 1000-seitige Gutachten des BfV stützt sich auf über 3800 Fußnoten. Das konservative Milieu sollte aus ihrer Vergangenheit die richtige Konsequenz ziehen. Nicht, dass wir es bald 5 nach 1933 haben.