Demokratie Wahlen
Demokratie ist nicht gleich Demokratie
Erststimme, Zweitstimme, taktisches Wählen: Die deutschen Wahlen können ganz schön kompliziert wirken. Dabei ginge es doch auch so viel einfacher, wie in den USA – eine Wahl, ein*e Gewinner*in. Aber diese Eindeutigkeit bringt einige Tücken mit sich.

Foto: IMAGO / Bihlmayerfotografie
GroKo, Kenia-Koalition, Schwarz-Grün – oder am Ende doch Bahamas? Kurz vor der Bundestagswahl spekulieren viele über mögliche Regierungskoalitionen. In den USA scheint die Machtfrage einfacher geregelt. Ins Weiße Haus ziehen entweder Demokraten oder Republikaner; der Präsident (in der Zukunft vielleicht auch die Präsidentin) besetzt das Kabinett in der Regel mit Mitgliedern der eigenen Partei. Der Grund liegt in der unterschiedlichen Strukturen und Wahlsystemen der beiden Demokratien. Welche sind das und wie beeinflussen sie das politische Leben?
Parlamentarische Demokratie in Deutschland
Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie. Die Bürger*innen wählen das Parlament, das den Kanzler oder die Kanzlerin wählt. Die Bundesregierung braucht die Unterstützung des Parlaments. Eine Minderheitsregierung ist zwar theoretisch möglich, aber die Ausnahme – bislang waren sie meist Folge gebrochener Koalitionen. Und das Parlament kann den Bundeskanzler mit einem konstruktiven Misstrauensvotum auch wieder abberufen. Die Regierung ist nicht unabhängig vom Parlament.
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Präsidentielle Demokratie
Anders sieht es in den USA aus, die eine präsidentielle Demokratie sind. Die Wähler*innen geben ihre Stimme einem Präsidentschaftskandidaten oder einer Kandidatin. Mit dem Umweg über das Electoral College wird der Präsident oder die Präsidentin gewählt. Er oder sie ist Staatsoberhaupt und Regierungschef in einer Person. Der Präsident ist nicht unmittelbar vom Parlament abhängig; das Parlament kann ihn auch nicht abberufen. Das Parlament kann ein Amtsenthebungsverfahren einleiten – bei diesem geht es jedoch nicht darum, ob das Parlament noch hinter der Politik der Regierung steht, sondern um Vergehen des Präsidenten. Die Gewaltenteilung ist stärker ausgeprägt als in Deutschland.
Das Electoral College wurde von den Gründervätern der USA eingeführt, um die Repräsentation der Bundesstaaten zu garantieren und die Wahl des Präsidenten nicht direkt in die Hände des Volkes zu legen.
In den USA kann es eine geteilte Regierung geben – wenn die Mehrheit des Kongresses (der aus Repräsentantenhaus und Senat besteht) von einer anderen Partei dominiert wird als der des Präsidenten. Ohne den Kongress kann ein Präsident sein Programm schwer umsetzen. So hatte es Präsident Obama in der zweiten Hälfte seiner letzten Amtszeit zum Beispiel mit einer republikanischen Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses zu tun. Donald Trump kann aktuell auf Mehrheiten seiner eigenen Partei in beiden Häusern zählen.
The Winner Takes „It“ All – Das Mehrheitswahlrecht
Die USA folgen dem „Winner-takes-all“-Prinzip. Bei Kongresswahlen gibt es je Wahlkreis nur eine*n Sieger*in – denjenigen oder diejenige mit den meisten Stimmen. Die übrigen Stimmen verfallen. Große Teile der Bevölkerung werden so nicht im Parlament repräsentiert, nämlich alle, die für den oder die Unterlege*n gestimmt haben. So sind zum Beispiel alle Abgeordneten des Bundesstaates Massachusetts Demokrat*innen, obwohl ein Drittel der Wähler*innen republikanisch abgestimmt hat. Umgekehrt wählte ein Drittel in Oklahoma demokratisch – für den Bundesstaat sitzen aber nur Republikaner*innen im Abgeordnetenhaus.
Gerrymandering, der parteiische Zuschnitt von Wahlkreisgrenzen, verstärkt diesen Effekt. In Kombination mit der zunehmenden geographischen Polarisierung (die Demokraten dominieren Städte, die Republikaner ländliche Gebiete) verhärtetet das die politischen Fronten. Der Favorit bzw. die Favoritin muss weniger Kompromisse eingehen und die Interessen der unterlegenen Wählerschaft nicht mehr berücksichtigen.
Immer wieder gibt es Vorstöße für eine Reform. Eine Initiative von über 200 Politik- und Geisteswissenschaftler*innen forderte in einem offenen Brief an den Kongress die Einführung von Wahlkreisen mit mehr als einem*einer Abgeordneten und proportionale Repräsentation – bislang erfolglos.
Jede Stimme zählt
Proportionale Repräsentation ist der Leitgedanke der Wahlen in Deutschland. Mit der Zweitstimme auf dem Wahlzettel wählen Bürger*innen eine Partei. Diese bekommt anteilig Sitze im Parlament – sofern die erreichten Stimmen über fünf Prozent liegen. Doch auch Parteien, die darunter liegen, haben dank der Grundmandatsklausel noch die Chance auf den Einzug in den Bundestag.
Die Erststimme ähnelt dem amerikanischen Prinzip: Mit ihr stimmen Wähler*innen für einen Kandidaten oder eine Kandidatin in ihrem Wahlkreis. Hier gilt – wie in den USA – das „Winner-takes-all“-Prinzip. Doch die Wahlkreissieger*innen ziehen nur dann in den Bundestag ein, wenn ihre Partei durch die Zweitstimmen einen entsprechenden Anteil an Sitzen im Bundestag hat. Das personalisierte Verhältniswahlrecht in Deutschland sorgt dafür, dass ein breites Spektrum von Wählerinteressen im Parlament repräsentiert ist.
Zwei Parteien – oder viele?
In den USA gibt es zwar mehr als zwei politische Parteien (erinnert sich noch jemand an Ralph Nader, den Präsidentschaftskandidaten der Green Party?), aber eine entscheidende Rolle spielen nur Demokraten und Republikaner. Das liegt wesentlich am Winner-Takes-All-System. Jede neue Partei muss gegen die etablierten Kandidat*innen gewinnen – eine große Herausforderung.
Der moderate Joe Biden und die linke Alexandria Occasio-Cortez würden sich in Deutschland wohl nicht derselben Partei anschließen.
Republikaner und Demokraten bilden ein größeres politisches Spektrum ab als deutsche Parteien. Der moderate Joe Biden und die linke Alexandria Occasio-Cortez würden sich in Deutschland wohl nicht derselben Partei anschließen. Die Parteien wollen ein breites Spektrum von Wähler*innen ansprechen und sich dabei trotzdem deutlich von der politischen Konkurrenz abgrenzen. Das hat zu einer immer erbitterteren „Wir-gegen-sie“-Rhetorik geführt. Da bleibt wenig Raum für Zwischentöne, Kompromisse oder neue Impulse.
In Deutschland sind Koalitionen beim Regieren die Regel. Auch, wenn im Wahlkampf die Unterschiede betont werden, ist Zusammenarbeit über Fraktionen hinweg seit Jahrzehnten politischer Alltag. Wie sich die Lage in der nächsten Legislatur angesichts einer erstarkten AfD entwickelt, bleibt abzuwarten.