Digitalisierung Klimakrise
Was Klima- und Digitalexpert:innen vom Koalitionsvertrag halten
Am 9. April haben CDU, CSU und SPD ihren Koalitionsvertrag für die nächsten vier Jahre veröffentlicht. Seitdem haben auch Klima- und Digitalexpert:innen die 144 Seiten kommentiert. Ein Stimmungsbild zum derzeit wohl wichtigsten politischen Dokument im Land, das den Titel „Verantwortung für Deutschland“ trägt.

Markus Söder (CSU), Friedrich Merz (CDU), Lars Klingbeil und Saskia Esken (beide SPD),(im Hintergrund v.l.n.r.), stellen am 9. April 2025 den Koalitionsvertrag für die 21. Legislaturperiode vor. Der Titel: "Verartwortung für Deutschland". Foto: IMAGO / Frank Ossenbrink
Klimaschutz: Emissionen, Subventionen, Verkehr
Die naturstrom AG gibt einen Überblick zur angekündigten Energiewende und kommentiert. „Vieles bleibt […] Ausgestaltungssache und damit vorerst offen“ und blickt verhalten optimistisch nach vorn: „Riesige Ambitionen bei dem Thema lassen sich aus dem Koalitionsvertrag zwar nicht herauslesen, aber das kann sich im kommenden Regierungshandeln hoffentlich noch ändern.“ Als positive Details enthält der Vertrag unter anderem ein angekündigtes Gebäudeenergie- und ein Geothermie-Beschleunigungsgesetz sowie eine versprochene Ausweitung der Unterstützung für den Um- und Neubau von Wärmenetzsystemen.
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Die 150 Mitgliedsorganisationen des Klima-Allianz Deutschland e.V. fordern „mehr Mut zum Klimaschutz“. Matthias Meißner vom WWF Deutschland [Anm. d.Red: Nicht zu verwechseln mit dem Campact-Blog-Gastautor Matthias Meißner] kritisiert die Abschaffung des Heizungsgesetzes und das Festhalten an fossilen Energien. Das Bündnis Bürgerenergie e.V. begrüßt die Pläne zur Bürgerenergie, zum Energy Sharing und zum Mieterstrom. Prof. Dr. Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e.V. kritisiert, dass die neue Bundesregierung plant, den europäischen Emissionshandel zu verwässern und an klimaschädlichen Subventionen nicht nur festhalte, sondern diese sogar erweitere. Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe warnt vor „massiven Fehlanreize[n] für den Bau übergroßer und klimaschädlicher Pkw mit Verbrennungsmotor“.
Claudia Gerster von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) e.V. kommentiert: „Während sich die Mehrheit der Bevölkerung eine bäuerliche Landwirtschaft wünscht, die unsere natürlichen Ressourcen schützt und damit für eine nachhaltige Ernährungssicherheit sorgt, ist die Agrarpolitik immer noch mehrheitlich auf globale Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet.“ Hauke Doerk vom Umweltinstitut München erinnert an den im Wahlkampf heiß diskutierten „Wiedereinstieg in die Nutzung der Atomkraft„. Dieser „war von Anfang an eine populistische Luftnummer der Union“ – im Koalitionsvertrag und Pressekonferenzen kommt dazu kein Wort mehr.
Greenpeace erklärt: „Nie startete eine Bundesregierung unter besseren finanziellen Bedingungen in die Legislatur. 100 Milliarden Euro sieht das Sondervermögen für Klimaschutz vor.“ Aber: Der Gaskraftwerk-Ausbau „manövriert Deutschland in neue fossile Abhängigkeiten von Donald Trumps Flüssiggas. […] Wenn gleichzeitig noch das Flächenziel für den Ausbau der Windenergie an Land in Frage gestellt wird, dann zementiert dieser Vertrag teure und umweltschädliche Öl- und Gasimporte.“ Im Verkehr werden „[z]arte Fortschritte bei Bus und Bahn“ überschattet von klimaschädlichen „Zugeständnissen an den Autoverkehr“.
Klimaziele nicht erreichbar
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung e.V. urteilt: „Mit dem Koalitionsvertrag sind Klimaziele nicht erreichbar.“ Claudia Kemfert kommentiert: Es werden „einige umweltschädliche Subventionen nicht abgeschafft, sondern erhöht, wie etwa das Dienstwagenprivileg, die Rückvergütung von Agrardiesel oder aber die Senkung von Luftverkehrssteuern. Fliegen sollte nicht billiger, sondern teurer werden. Es fehlt ein dringend benötigtes Tempolimit, das nicht nur Emissionen senkt, sondern auch die Verkehrssicherheit stärkt.“
Der Klimablog liefert: „Erstmal die schlechte Nachricht: Klima ist nicht mehr, wie von Habeck eingeführt, im Wirtschaftsministerium beheimatet, sondern wird als Unterabteilung irgendwo ins Umweltministerium verbannt“ und beschreibt den Leseeindruck des Koalitionsvertrags: „Ach es ist eine Achterbahnfahrt von Satz zu Satz!“ Zu Emissionen kommentiert der Klimablog: „[M]an lässt die Tür zum CO2-Kolonialismus offen. Irgendwo shady Waldzertifikate kaufen.“ Außerdem will die Koalition „auf negative Emissionen setzen, […] [das ist] die ‚aus der Atmosphäre absaugen und dann in den Boden pumpen‘-Lösung“, die „noch keiner langfristig funktionierend ausprobiert“ hat, aber „vor allem von Erdölkonzernen verkauft“ wird.
Koalitionsvertrag als „Hochrisiko-Vertrag“
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland bezeichnet den Koalitionsvertrag als „Hochrisiko-Vertrag für Klima, Natur und Mitwirkungsrechte“ und argumentiert zu letzterem: „Mit der Ankündigung, die Öffentlichkeitsbeteiligung, Umweltinformations- und Verbandsklagerechte einzuschränken, legt die neue Bundesregierung die Axt an wichtige demokratische Grundfeste und beschneidet demokratische Mitwirkungsrechte. In Verbindung mit den angekündigten Einschnitten im Artenschutz und der Ausgleichsregelung für Naturzerstörung entsteht so eine explosive Mischung.“ Für den Landesverband Sachsen ist der Koalitionsvertrag ruinös für Umwelt, Wohlstand und Frieden: „Unterm Strich […] verfehlt der Koalitionsvertrag jedoch eine klare, konsistente Fokussierung auf eine rasche Emissionssenkung.“
In seiner Video-Kolumne #KlimaUm9 sieht Tadzio Müller den Koalitionsvertrag als Bestätigung für seine These: Klimaschutz isch over.
Werner Neumann, Energieexperte beim BUND: „Der Koalitionsvertrag fällt gegenüber den Anforderungen an nachhaltige Rechenzentren um Jahrzehnte zurück.“ Neumann warnt: „Wer […] die Nachhaltigkeit der Rechenzentren vernachlässigt, trägt dazu bei, dass die Probleme der Wärmeplanung der Kommunen vergrößert werden und auch die Luftbelastung durch immer mehr Feinstaub der Notstromdiesel zur realen Gesundheitsgefahr wird.“
Digitalisierung: Wirtschaft, KI, Überwachung, Datenministerium
Der Bitkom e. V., nach eigener Angabe der „größte europäische Think Tank zu Digitalthemen“, der mehr als 2.000 Unternehmen vertritt, lobt in seinem Statement die Pläne für ein Digitalministerium, für Bürokratieabbau, Wirtschaftswachstum, das Netzausbau-Beschleunigungs-Gesetz, die Digitalisierung der Verwaltung und die Förderung von Künstlicher Intelligenz. Hierfür will die Digitalwirtschaft Steuerinvestitionen sehen: Die „Finanzierung muss jetzt schnell geklärt werden.“
Die Wirtschaftskanzlei Taylor Wessing betont die angestrebten „massiven“ Investitionen in Cloud- und KI-Infrastrukturen und bemerkt: „Auffällig ist jedoch, dass trotz der ambitionierten Ziele kein explizites Digitalbudget beziffert wird, sondern lediglich ein strategisch auszurichtendes ‚IT-Budget‘ erwähnt wird […] und alle Vorhaben unter einem generellen Finanzierungsvorbehalt stehen […].“
Die OpenCloud GmbH begrüßt, dass die zukünftige Bundesregierung die digitale Souveränität des Landes stärken will. Gemeint ist damit die selbstbestimmte Entwicklung und Nutzung von digitalen Geräten und Diensten. OpenCloud fordert hierzu eine konkrete Strategie, rät dazu, die Potenziale des Mittelstandes zu nutzen und gibt der Politik mit auf den Weg: „Digitale Souveränität braucht flexible Strukturen, keine Großprojekte.“ In Fachkreisen wird vor der digitalen Abhängigkeit von meist US-amerikanischen und chinesischen Digitalkonzernen seit Jahrzehnten gewarnt. Mit der autoritären Wende der USA hat das Problem nun in der Politik Gehör gefunden. Kürzlich formulierte Markus Beckedahl einen Treffersatz über die Macht von Digitalkonzernen: „Spätestens heute rächt es sich, dass man oft arrogant digitalpolitische Debatten immer nur als etwas ‚für die Nerds‘ abgetan hat.“
„Informationskompetenz im Interesse der wehrhaften Demokratie“
Mit digitaler Bildung befasst sich das Statement des Deutschen Volkshochschul-Verbands und fordert: „Informationskompetenz im Interesse der wehrhaften Demokratie“. Julia von Westerholt konkretisiert, dass „die geplante digitale Kompetenzoffensive unsere Gesellschaft resilienter gegen Desinformation und Manipulation machen muss“.
Baden-Württembergs oberster Datenschützer Tobias Keber hält die geplante „begrenzte Bündelung der Datenschutzaufsicht für die Wirtschaft beim Bund […] für den falschen Weg“ und will mit Datenschutzberatung „vor Ort sein und […] gerade für kleine Unternehmen oder Startups zuständig sein“, das könne die Bundesbeauftragte für den Datenschutz „schon aus Kapazitätsgründen“ nicht leisten. Die Ankündigung, verpflichtende Datenschutzbeauftragte in kleinen und mittleren Unternehmen abzuschaffen, pariert Keber: „Einen Brand im Haus verhindern Sie nicht dadurch, dass Sie den Feuerlöscher abschaffen.“
„So wenig Datenschutz war noch nie“
Heribert Prantl bewertet hinter einer Bezahlschranke in der Süddeutschen Zeitung den „Abgesang auf die informationelle Selbstbestimmung“. „So wenig Datenschutz war noch nie“ titelt seine Kolumne. Die Ankündigung, ihr Amt von „Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit“ in „Bundesbeauftragte für Datennutzung, Datenschutz und Informationsfreiheit“ umzubenennen, kommentiert Louisa Specht-Riemenschneider im Spiegel: „Datenschutz und Datennutzbarkeit müssen ohnehin zusammen gedacht werden. Das bedeutet nicht, dass ich mich dem Schutz der informationellen Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger weniger verbunden fühlen werde.“
Netzpolitik.org liefert einen gut strukturierten Überblick zu digitalpolitischen Themen, der die Aufrüstung des Überwachungsportfolios deutlich macht: Die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen und Portnummern soll kommen, genau wie Staatstrojaner für die Bundespolizei, biometrische Internetfahndung inklusive notwendiger Datenbank, Gesichtserkennung und Biometrie online und offline, aber „[e]in wirkliches Bekenntnis zur Verschlüsselung und vertraulicher Kommunikation fehlt hingegen“. Die geplanten Änderungen im Strafgesetzbuch würden einen „Gummiparagrafen [schaffen], der die Polizei ermächtigt, alleine aufgrund der angenommenen Gesinnung Wohnungsdurchsuchungen durchzuführen. Gerade im Hinblick auf eine erstarkende AfD ist das eine gefährliche Änderung, welche die Verfolgung unliebsamer Personen ermöglicht.“ Geheimdienste sollen mehr Freiheiten bekommen, aber weniger kontrolliert werden, so die Einschätzung von netzpolitik.org.
Hauptsache: KI?
Achselzuckend kommentiert netzpolitik.org den omnipräsenten Ruf der Koalition nach mehr KI: „Häufig bleibt jedoch unklar, welche Art von KI-System genau gemeint ist und warum es nützlich sein soll. Hauptsache: KI.“ AlgorithmWatch kritisiert: „Kosten von KI für die Gesellschaft bleiben allerdings weitestgehend ausgeklammert“ – anstatt weniger Schutz vor übergriffigen KI braucht es „klare Regeln, auf die sich Unternehmen einstellen können – denn neue Abhängigkeiten von europäischen Lösungen, die nicht grundrechtsschonender sind als die alten, stellen keinen echten Innovationsfortschritt dar.“
Ein neues Digitalministerium soll die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung voranbringen. AlgorithmWatch fordert dafür „verpflichtende Grundrechtefolgeabschätzungen und ein verbindliches KI-Transparenzregister.“ Anna Biselli behauptet, es sei „fast egal, ob es ein Digitalministerium gibt“. Entscheidend seien vier Dinge: ein Ende des bisherigen „Kompetenzgerangel“ um Zuständigkeiten, ein eigenständiges Digitalbudget, der Wille, mit Digitalisierung die Welt gestalten zu wollen und eine Ausrichtung auf gemeinwohlorientierte digitale Gesellschaftspolitik.
Wie geht es weiter?
Bis Dienstag, 29. April, können SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag, abstimmen. Eine Ablehnung ist unwahrscheinlich – auch wenn sich viele aus den Reihen der Jusos gegen den Vetrag positionieren. Die CSU hat dem Koalitionsvertrag bereits zugestimmt und bei der CDU wird das der etwa 160-köpfige Bundesausschuss tun. Friedrich Merz will sich voraussichtlichen am 6. Mai vom Bundestag zum neuen Bundeskanzler wählen lassen. Bevor es in die, nach hinten verschobene, Sommerpause des Bundestags gehen soll, soll ein Programm zur Umsetzung der ersten Punkte des Koalitionsvertrags stehen.