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Inhaltliche Warnung / Content Warning: In diesem Text geht es um sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung und den Einsatz von K.O.-Tropfen. Überlege Dir, ob Du den Text jetzt lesen möchtest und ob Du Unterstützung brauchst.

Berlin-Moabit am 11. Juli: Eine Traube Menschen protestiert vor dem Amtsgericht Tiergarten – vor allem Frauen. „Ein Staat, der nicht schützt, macht sich mitschuldig“ ist auf einem Demo-Plakat zu lesen. An diesem Freitagvormittag wird hier nach zwölf Prozesstagen das Urteil im Vergewaltigungsfall von Marvin S. verkündet. Im April 2022 hatte er eine Studentin mit K.O.-Tropfen betäubt und sexuell missbraucht. Fast wäre sie dabei gestorben. Die Initiative Nur Ja heißt Ja! demonstriert gemeinsam mit anderen vor dem Gericht ihre Solidarität mit der Betroffenen – und kämpft für einen besseren Schutz von Frauen* vor sexualisierter Gewalt.

Der Fall um Marvin S.

Fünf Jahre und sechs Monate: So lange geht Marvin S. nun mindestens ins Gefängnis. Dass es überhaupt zu diesem Urteilsspruch kam, grenzt an ein Wunder. Nur etwa eine von hundert Vergewaltigungen endet in Deutschland mit einer Verurteilung des Täters. Und auch im Fall von Marvin S. sah es zunächst nicht danach aus: Die Polizei, die von der Notärztin in Marvin S. Wohnung herbeigerufen worden war, sah keinen Anlass zu ermitteln – trotz misogyner Schriftzüge auf dem Körper der Betroffenen, Würgemalen und schweren Vergiftungen durch die unterschiedlichen Drogen, die Marvin S. ihr im Laufe der Nacht gegeben hatte. Erst auf Strafanzeige ihrer Familie hin nahm das Landeskriminalamt Ermittlungen auf.

Hausdurchsuchungen brachten zwei Monate später Videomaterial aus der Tatnacht zutage, auf denen Marvin S. seine Vergewaltigungen der leblos wirkenden Betroffenen filmte. Darüber hinaus fanden die Ermittler:innen kinderpornografisches Material und Videos weiterer Vergewaltigungen durch Marvin S. Nur der Familie und diesem Filmmaterial ist zu verdanken, dass es am 11. Juli zu einer Verurteilung kam.

Kein Einzelfall

Das Verhalten von Marvin S. ist entsetzlich – aber leider kein Einzelfall. Das zeigte erst im vergangenen Jahr der Prozess um die Französin Gisèle Pelicot. Die heute 72-Jährige war über ein Jahrzehnt systematisch von ihrem Ehemann betäubt, vergewaltigt und anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten worden. Sie entschied, einen öffentlichen Prozess gegen ihren Mann und die Mitangeklagten zu führen. Die Scham sollte die Seite wechseln. 

Sexualisierte Gewalt umfasst alle sexuellen Handlungen, die einer Person aufgedrängt oder aufgezwungen werden. Sie reicht von sexueller Belästigung bis zu Vergewaltigung. Wenn Du selbst Opfer sexueller Gewalt bist, das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist 24 Stunden lang, anonym und kostenfrei erreichbar. 

Zum Ende des Prozesses hin veröffentlichten Investigativjournalistinnen des Magazins STR_F eine Recherche über dutzende Telegramgruppen mit zehntausenden Mitgliedern, in denen sich Männer darüber austauschen, wie sie ihre Freundinnen, Frauen, Mütter oder Schwestern betäuben, um sie zu vergewaltigen. Die Filme davon teilten sie teilweise auf Online-Plattformen mit anderen Männern. Die Recherche zeichnete ein Bild von organisierter sexualisierter Gewalt im Nah- und weiteren Umfeld von Frauen* unter dem Einsatz von Betäubungsmitteln in bisher ungeahnter Dimension.

Die Zahl der Betroffenen: unbekannt

Wie viele Frauen* betroffen sind, bleibt indessen unklar. Denn bisher gibt es keine zuverlässigen Zahlen oder Erhebungen. Manche Betroffene wissen gar nichts von ihrem Missbrauch – so, wie Gisèle Pelicot über ein Jahrzehnt. Aber auch viele andere Frauen* zeigen ihre Vergewaltigungen nicht an, da Gerichtsverfahren häufig mit Retraumatisierungen einhergehen und die Chance, Täter zu verurteilen, verschwindend gering ist. Viele Betäubungsmittel werden zudem im Blut so schnell abgebaut, dass ein Nachweis schwierig ist. Kriminalstatistiken liefern also kein sinnvolles Bild der Lage. Eine neue Studie an der Universität Chemnitz versucht nun, durch eine großflächige Befragung erstmals einen besseren Überblick über die Dunkelziffer der Betroffenen zu erreichen. 

Hier geht’s zur Studie der Uni Chemnitz:

Jede Teilnahme hilft bei der Datensammlung – unabhängig davon, ob ihr selbst betroffen seid!

Höhere Strafen: Nur Symbolpolitik?

Das Problem ist groß: Das haben auch die Ministerpräsident*innen vieler Bundesländer erkannt. Im Mai haben sie deshalb im Bundesrat eine Gesetzesinitiative beschlossen. Täter, die Andere unter dem Einsatz von Betäubungsmitteln vergewaltigen oder missbrauchen, sollen härter bestraft werden – mit einer Gefängnisstrafe von mindestens fünf Jahren.

Die Grüne Bundestagsabgeordnete und Rechtsanwältin Lena Gumnior begrüßt das Vorhaben: „Ich unterstütze die Gesetzesinitiative, weil sie rechtlich eine klare Lage schafft.“ Gleichzeitig weiß Gumnior: Eine Strafverschärfung hält Täter nicht von der Tat ab. Deshalb muss einerseits die Prävention gestärkt werden. Andererseits braucht es Maßnahmen, die die Betroffenen unterstützen. „Richter*innen und Staatsanwält*innen müssen dringend verpflichtend fortgebildet werden. Krankenhäuser und Krankenkassen müssen eine schnelle und kostenlose anonyme Spurensicherung ermöglichen, um Betroffene dabei zu unterstützen, Missbrauch anzuzeigen“, so Lena Gumnior weiter. 

Diese Position teilt auch Jil Zepp von der Initiative Nur Ja heißt Ja!: „Wir befürworten die geplante Strafverschärfung, aber in der Realität bewirkt sie wenig. Ob der Täter für drei oder fünf Jahre ins Gefängnis geht, ist für viele Betroffene zweitrangig. Häufig ist für sie vor allem wichtig, dass der Täter überhaupt verurteilt wird und damit das Unrecht, das ihnen angetan wurde, anerkannt wird. Doch dafür muss es erstmal zu einem Verfahren kommen. Hier liegt im Gros der Fälle das Problem.“ Das zeigt auch der Fall Marvin S., in dem die Polizei von sich aus keine Ermittlungen einleitete. 

Der Polizeiskandal im Fall Marvin S.

Noch heute sieht die Berliner Polizei kein Problem mit ihrem Vorgehen in der Tatnacht. Benjamin Jendro, Sprecher der Berliner Polizeigewerkschaft, kommentiert: „Wenn der Täter sagt: ‚Ich hab hier nix gemacht‘ und das Opfer hier nicht wirklich nachweisen kann: ‚Hier ist mir wirklich was passiert, hier ist wirklich ne Straftat‘, dann muss man auch […] von einvernehmlichen Geschlechtsverkehr ausgehen.“ Zur Erinnerung: Das Opfer war zu diesem Zeitpunkt beschmiert, bewusstlos und schwebte in akuter Lebensgefahr. 

Jil Zepp spricht deshalb auch von einem „Polizeiskandal“ und „institutionellem Totalversagen“. Mit einer Petition fordert die Initiative nun Aufklärung des polizeilichen Vorgehens im Fall Marvin S., die trotz der Gewaltspuren am Körper der Betroffenen und ihrem Koma von „einvernehmlichem Geschlechtsverkehr“ ausging – und folglich keine Spuren für eine Anklage sicherte. Langfristig fordert die Initiative zudem bundesweite Schulungen für Polizeikräfte zum betroffenenorientierten Umgang mit sexualisierter Gewalt. 

Petition: Schutz vor sexualisierter Gewalt stärken!

Die Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, setzt sich für die Aufklärung von polizeilichem Versagen und mehr Schutz ein.

Für ein konsensbasiertes Sexualstrafrecht

Verpflichtende Schulungen von Polizeibeamt*innen, Fortbildungen für Richter*innen, anonyme und kostenlose Spurensicherung im Krankenhaus: Alle diese Maßnahmen müssen Teil eines Paradigmenwechsels im Sexualstrafrecht sein. Von der aktuellen „Nein heißt Nein“-Regelung hin zu einem konsensbasierten Sexualstrafrecht unter dem Motto „Nur Ja heißt Ja“.

Für Gerichtsverfahren bededeutet das eine konkrete Veränderung: Bisher musste eine betroffene Person nachweisen, dass sie zu nicht einvernehmlichem Sex verbal oder körperlich ihren Dissens erklärt hatte – oder dazu nicht in der Lage war, weil sie bewusstlos war. In der neuen Logik muss nun der Angeklagte nachweisen, dass die Betroffene verbal oder körperlich ihr Einverständnis zum Sex gezeigt hatte.

Die grundlegende Logik des Gerichtsverfahrens würde sich dabei nicht verändern: „Die Staatsanwaltschaft muss natürlich trotzdem weiter die Schuld beweisen und nicht die Unschuld. Dieses wichtige Prinzip bleibt also bestehen“, sagt Jil Zepp von der Initiative Nur Ja heißt Ja!, „Aber das Verfahren würde sich verändern“. 

Was das konkret heißen würde, zeigt der Fall von Marvin S.: Dieser hatte im ganzen Prozess fast bis zum Ende geschwiegen, ein psychologisches Gutachten verweigert und in seinem Schluss-Statement nur strafmildernde Umstände angeführt. Die Betroffene dagegen wurde umfassend befragt und ein psychologisches Gutachten über sie erstellt. „Mit einer ‚Ja heißt Ja‘-Gesetzgebung müsste nun auch der Angeklagte rechtfertigen, wie ihm Konsens mitgeteilt wurde“, so Jil Zepp. Eine vollständige Aussageverweigerung im Gerichtsprozess, wie von Marvin S., wäre nicht mehr so leicht möglich. Beide Seiten des Verfahrens müssten zumindest befragt werden und ihr Handeln rechtfertigen.

Die Rechtfertigungspflicht muss die Seite wechseln

Auch die Grüne Bundestagsabgeordnete Lena Gumnior betont die Veränderung, die ein konsensbasiertes Sexualstrafrecht in Vernehmungen bewirken würde: „Es kehrt um, wer sich rechtfertigen muss. Betroffene müssen nicht mehr darlegen, dass sie sich aktiv gewehrt haben. Das erleichtert eine Anzeige und nimmt den Druck.“ Elsa Pauline vom Verein KO – Kein Opfer e.V., einer Organisation von und für Betroffene, bestätigt das: „Für viele Betroffene sind die polizeilichen Befragungen und Vernehmungen retraumatisierend.“ Auch deshalb entschieden sich viele von vornherein dagegen, Anzeige zu stellen. „Wir unterstützen deshalb die Forderung nach einem konsensbasierten Sexualstrafrecht.“ Vorbildgesetze dafür gibt es schon in über 14 europäischen Ländern – darunter Norwegen, Frankreich und Slowenien. Höchste Zeit, dass wir das Sexualstrafrecht auch in Deutschland ändern.

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Autor*innen

Inken Behrmann ist für Klimaschutz und Feminismus unterwegs. Nachdem sie als Campaignerin bei Campact und in der Klimabewegung Kampagnen für Klimaschutz organisiert hat, promoviert sie aktuell an der Universität Bremen. Für den Campact-Blog schreibt sie als Gast-Autorin Texte gegen das Patriarchat. Alle Beiträge

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