Klimakrise Feminismus Soziale Ungerechtigkeit AfD Demokratie Ostdeutschland Rechtsextremismus Frieden Montagslächeln Antirassismus

Sonja Eichwede, Vizefraktionsvorsitzende der SPD, will einen neuen Straftatbestand gegen Catcalling schaffen. Das kündigte sie in einem Stern-Interview an. Verbale sexuelle Belästigung gilt in Deutschland rechtlich nicht als Beleidigung. Schon 2017 stellte der Bundesgerichtshof eine Gesetzeslücke fest, die Eichwede nun schließen möchte. Das klingt gut – bringt aber nichts.

Willkommen im Campact-Blog

Schön, dass Du hier bist! Campact e.V. ist eine Kampagnen-Organisation, mit der sich über 4,25 Millionen Menschen für progressive Politik einsetzen. Im Campact-Blog schreiben das Team und ausgezeichnete und versierte Gast-Autor*innen über Hintergründe und Einsichten zu progressiver Politik.

Ein skandalöses Urteil zeigt das Problem

Der Fall, auf den sich Eichwede bezieht: Ein 65-jähriger Mann sagte zu einem elfjährigen Mädchen, er wolle ihm – Achtung, ekelhaft – „an die Muschi fassen“. Das Gericht sprach den Mann frei. Die Begründung: Diese Äußerung enthalte keine „herabsetzende Bewertung des Opfers“. „Bloß sexualbezogene oder grob sexuelle Äußerungen“ seien nicht vom Straftatbestand der Beleidigung erfasst.

Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Art von Sexualität, sondern um angekündigte sexualisierte Gewalt gegen ein Kind. Ein erwachsener Mann kündigt also an, ein Kind sexuell zu misshandeln – und das Gericht findet das okay.

Ich hoffe, es ist gesamtgesellschaftlicher Konsens, dass ein 11-jähriges Kind in diesem Fall kein Einvernehmen haben kann. Dass ein Gericht ein Kind auf dieser Art sexualisiert, ist ekelerregend. Hinzu kommt, dass dieser Fall sehr wenig mit dem oben besagten Problem der verbalen Belästigung im öffentlichen Raum zu tun hat.

Das Gesetz ändert nichts

Es ist definitiv ein richtiges Anliegen, dafür sorgen zu wollen, dass nicht die Opfer, sondern die Täter*innen ihr Verhalten ändern sollten, so wie es Eichwede in dem Interview ausdrückt. Allerdings ändern solche Gesetze nichts an gesellschaftlichen Missständen. Sie sind Augenwischerei.

Warum? Eichwede sagt, das Gesetz gelte nicht für „unerwünschte Komplimente“. Das ist der Haken: Denn Männer, die belästigen, behaupten immer, es sei als Kompliment gemeint. Wer entscheidet, wo ein Kompliment beginnt und wo es endet?

Offensichtlich sind die Gerichte keine richtigen Orte für diese Auseinandersetzung. Das zeigt das Skandal-Urteil, das nicht einmal Kinder vor sexualisierten Angriffen schützen will. Das bedeutet: Selbst mit einem neuen Gesetz, das verbale Belästigung im öffentlichen Raum unter Strafe stellt, ändert sich für die Betroffenen praktisch nichts. Eichwedes Vorstoß sieht aus wie eine Maßnahme, aber in Realität ist es keine.

Politiker*innen können sich zurücklehnen

Sollte das Vorhaben Realität werden und die Sozialdemokrat*innen verabschieden das Gesetz, könnten sie sich entspannt zurücklehnen. Auf Forderungen von Feminist*innen antworten sie dann, dass sie mit dem Gesetz ihre Verantwortung übernommen und für die Sicherheit von Frauen und Mädchen im öffentlichen Raum gesorgt hätten. Und das muss nicht einmal stimmen.

Das Gesetz schafft neue Ungerechtigkeiten

Das Gesetz problematisiert vor allem ein bestimmtes Verhalten, das im öffentlichen Raum stattfindet. Was hinter verschlossenen Türen passiert, bleibt unberührt. Was ist mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? Kein dringliches Problem – die Täter tragen Anzüge und in vielen Fällen kommen sie aus ähnlichen Verhältnissen wie die Sozialdemokrat*innen selbst.

Studien belegen diese Ungleichbehandlung. So steigt die Anzeigebereitschaft, wenn mutmaßliche Täter*innen als nicht-weiß bzw. migrantisch eingeordnet werden. Andere Studien wiederum belegen, dass nicht-weiße Täter*innen vor dem Gericht viel härter bestraft werden als weiße Täter. Dasselbe System schützt wohlhabende Menschen, indem sie nicht nur mildere Strafen bekommen, sondern ihre Gefängnisstrafen auch gegen für sie winzige Summen Geld eintauschen können.

Die Vizefraktionsvorsitzende der SPD Eichwede kann sich vorstellen, zunächst mit einer Geldstrafe anzufangen. Die Frage ist: Wer kann sich die Belästigung leisten? Wer kann die Geldstrafe nicht bezahlen und muss absitzen? Also, um wen geht es hier eigentlich?

Echte Veränderung braucht mehr

Solange sich nichts an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändert, ändert sich nichts bei der Belästigung. Und dafür muss von politischer Seite mehr – viel mehr – geleistet werden, als ein bestimmtes Verhalten nur für bestimmte gesellschaftliche Kreise zu kriminalisieren.

Wer ist schützenswert, wo beginnen die Grenzen der Menschenwürde, und wie kann man die Würde von Frauen und Mädchen schützen? Sie müssen als vollständige Menschen wahrgenommen und behandelt werden – nicht als Objekte. Dafür brauchen wir ein Gesamtkonzept, eine flächendeckende feministische Offensive. Nicht diese mittelständige Kleinkrämerei.

TEILEN

Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erschien am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Gastkolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

Auch interessant

Feminismus, Wirtschaft Steuerentlastung für Eltern: Straft der Staat Eltern ab?  Alltagsrassismus, Feminismus American Eagle und „Good Jeans“: Profit als Kompass Feminismus Die Rechtfertigungspflicht muss die Seite wechseln CDU, Feminismus, LGBTQIA* Familienministerin Prien verordnet Genderverbot Feminismus, Verkehr Segregation ist auch keine Lösung Feminismus, Globale Gesellschaft Das Centre for Feminist Foreign Policy schließt – und das geht uns alle an Feminismus, Rechtsextremismus #SkinnyTok: Warum Rechtsextreme wollen, dass Frauen dünn sind  Feminismus, Hate Speech Hass-Kampagnen gegen Frauen: Wenn Misogynie politisch wird Feminismus, Gesundheit Chefarzt klagt dafür, Schwangerschaftsabbrüche durchführen zu dürfen Feminismus, Globale Gesellschaft, Menschenrechte Wütend zusammen