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Nie wieder ist jetzt

Über 25.000 Menschen folgten dem Aufruf von Campact und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ans Brandenburger Tor in Berlin. Darauf können wir stolz sein. Und doch bleibt bis heute ein bitterer Beigeschmack.

Mit einer großen Kundgebung vor dem Brandenburger Tor am Sonntag, den 22. Oktober, stellte sich ein breites Bündnis der Zivilgesellschaft sowie demokratischer Parteien unter dem Motto 'Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus' an die Seite der Menschen in Israel und an alle weiteren Opfer der Hamas.
Foto: Nick Jaussi / i.A.v. Campact e.V.

Die derzeitigen Ereignisse in Israel und Gaza machen fassungslos. Der Hamas-Terror ist grausam. Noch nie seit der Shoa starben so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag. Das Ziel war klar: Der israelische Staat soll ausgelöscht, das jüdische Leben vernichtet werden. Die Welle des Terrors macht aber nicht in Israel oder an den dortigen Grenzen halt, sondern dringt tief in unsere Gesellschaft ein. Wohnungen von jüdischen Mitbürger*innen werden in Berlin mit dem Davidstern beschmiert, Molotowcocktails fliegen auf Synagogen. Das jüdische Leben steht einmal mehr in Deutschland, Europa und im Nahen Osten auf dem Spiel.

Umso mehr war der vergangene Sonntag ein starker und schöner Moment für das jüdische Leben in Deutschland und der Welt, für uns von Campact und unsere Bürgerbewegung. Wir haben die Flagge für das jüdische Leben, gegen Antisemitismus, Hass und Hetze hochgehalten. Nie wieder ist jetzt: Über 25.000 Menschen folgten dem Aufruf von uns und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ans Brandenburger Tor in Berlin – einem Aufruf, dem selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und ein riesiges zivilgesellschaftliches Bündnis folgten. Darauf können wir stolz sein. Und doch bleibt bis heute ein bitterer Beigeschmack, denn die Stimmen der arabischen und muslimischen Communities und Zivilgesellschaften fehlten. Denn anders als viele behaupten, sind nicht Musliminnen und Muslime oder der politische Islam das Problem, sondern der Islamismus. 

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Nie wieder ist jetzt

Genau das ist fatal. Denn neben der Frage, was die Solidarität mit Israel heute denn genau bedeutet, droht der Terror der Hamas unsere Gesellschaft einmal mehr zu entzweien. Ein starkes Bekenntnis der muslimischen Zivilgesellschaft wäre umso wichtiger, denn das muslimische Leben darf nicht in eine Schublade mit der Terrormiliz Hamas oder Hisbollah gesteckt werden. Im Gegenteil: Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie friedlich Christ*innen, Jüd*innen oder Muslim*innen zusammenwohnen oder sogar Gotteshäuser bauen, wie wir am House of One Home in Hamburg sehen können.

Und was noch viel wichtiger zu betonen und auch zu verurteilen ist: Die Hamas nutzt die Zivilbevölkerung als menschliches Schutzschild. „Nie wieder ist jetzt“ bedeutet für mich, dass der Schutz Israels und des jüdischen Lebens unverhandelbar ist, aber ebenso für die Menschen gilt, die gerade Opfer des abscheulichen Hamas-Terrors werden – ob in Gaza oder Israel. Diese Botschaft haben wir nicht nur vergangenen Sonntag in Berlin gesetzt, sondern werden wir in Zukunft immer und immer wieder setzen. 

When they go low, we go high

Was aber bleibt von Sonntag? Was genau bedeutet „Nie wieder ist jetzt“ für die Zukunft und wie ist die Solidarität mit Israel zu verstehen? Diese drei Fragen sind für die nächsten Tage, Wochen, Monate, wenn nicht sogar Jahre entscheidend. Denn Israels Armee steht kurz davor, eine Bodenoffensive zu starten. Seit dem Terrorangriff flog die israelische Luftwaffe unzählige Angriffe gegen die Terrormiliz Hamas, die sich in Gaza verschanzt hat und wie immer im Krieg leidet am meisten die Zivilbevölkerung. Mittlerweile sind Tausende Tote zu verzeichnen, während die Hamas noch immer Geiseln hält, sie als Druckmittel einsetzt und die Zivilbevölkerung weiterhin als lebendes Schutzschild benutzt wird.

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Israel hat ein Verteidigungsrecht und muss doch aufpassen, nicht auch Kriegsverbrechen zu begehen, wie die Hamas es tut. Michelle Obama sagte einmal „When they go low, we go high“. Was damals auf den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und seine rassistischen Wutanfälle abzielte, bedeutet für Israel, dass das Völkerrecht die Grundlage jedweden Handelns sein muss. Gleichzeitig bedeuten diese Worte Obamas, dass wir in diesen Zeiten des wachsenden Antisemitismus auch auf die blicken müssen, die derzeit unter dem Krieg leiden: Kinder, Schwache, Familien in Palästina. Es ist daher nur zu begrüßen, dass die Bundesregierung ihre Finanzhilfen für Palästina um 50 Millionen erhöht hat, wovon 19 Millionen an das UN-Hilfswerk gehen. Humanitärer Hilfe darf in diesen Zeiten nicht der Geldhahn abgedreht werden.

Warum kein Weg an der Zwei-Staaten-Lösung vorbei führt

Was jetzt aber in den nächsten Tagen gilt, könnte brandgefährlich werden. Der Terror der Hamas zeigt einmal mehr, dass die losgetretene Welle des Hasses einen Flächenbrand auslösen kann. Irans Mullahs befeuern und finanzieren diesen Brand, indem sie die Hamas direkt unterstützen und parallel noch die andere Terrormiliz Hisbollah aufrüsten und anstacheln. Israel ist umringt von Milizen und sieht seine Sicherheit berechtigterweise bedroht. Und doch hat Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, recht, wenn er sagt: „Es muss zu einer diplomatischen Lösung kommen. Man muss zurückkehren zur Zwei-Staaten-Lösung, die geltendes Recht ist. Israel muss hier mitmachen, auch wenn man sich das derzeit nicht vorstellen kann, aber es ist der einzige Ausweg.

Und damit sind wir dort angekommen, was in der jetzigen Debatte alles so schwierig macht: 56 Jahre Besatzung der Palästinensergebiete durch Israel und die Ausweitung der dortigen israelischen Siedlungspolitik. Was UN-Generalsekretär António Guterres ungünstig formulierte, als er meinte, der Terror der Hamas sei „nicht in einem Vakuum“ entstanden, ist bis heute Grundlage eines Konflikts über Jahrzehnte.

Die Besatzung ist eine Verletzung des Völkerrechts, darüber brauchen wir nicht streiten. Sie ist historisch aus einem Verteidigungskrieg Israels entstanden und seit jeher Nährboden für den Hamas-Terror. Das rechtfertigt nicht die Gewalt gegen Israel, im Gegenteil: Es gibt niemals eine Rechtfertigung für feigen Terror. Es ist aber eine Grundlage für die Debatte, die wir brauchen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir die Solidarität mit Israel und das uneingeschränkte „Ja!“ zum jüdischen Leben langfristig beantworten wollen.

Wir dürfen nicht auf das zerstörerische Spiel der Hamas reinfallen

Es ist zu einfach, sich über die Aussagen von Guterres und Heusgen zu empören. Beide sind sehr erfahrene und geschätzte Diplomaten. Sie warnen zu Recht vor einer Bodenoffensive und ihren Folgen, vor der auch der amtierende US-Präsident Joe Biden und der ehemalige Barack Obama warnen. Wir stehen hier vor einem Dilemma: Einerseits wird dem seit Jahren immer heftiger werdenden Raketenhagel der Hamas auf Israel nur ein Ende zu bereiten sein, wenn Israel deren Strukturen mit einer Bodenoffensive zerschlägt. Andererseits wird eine solche Offensive noch viel mehr Leid und Zerstörung mit sich bringen – für die Zivilbevölkerung, aber auch für womöglich Tausende tote israelische Soldaten. Und die Kriege im Irak und Afghanistan haben gezeigt, wie schwierig eine Auseinandersetzung zu gewinnen ist. Zudem droht sie die gerade erst entstandenen Keime der Hoffnung zu vernichten: die Annäherung Israels an die muslimische Welt im Nahen Osten. Und wir müssen uns jetzt schon überlegen, was die Antwort nach der Offensive sein wird.

Wenn wir darauf keine Antworten finden, passt das der Hamas und dem Regime in Teheran gut ins Spiel. Sie kennen nur eine Antwort und das ist Israels Auslöschung. Wenn wir also keine nachhaltigen Antworten finden, würde dies die Spirale der Gewalt weiter anfachen. Israel und die USA drohen damit in einen langen Krieg hineinzugeraten, bei dem es nur Verlierer geben wird. 

Solidarität heißt auch, friedliche Lösungen zu finden

Solidarität mit Israel heißt für uns von Campact damit, das Existenzrecht für Israel, das jüdische Leben dort, hier bei uns und überall auf der Welt zu verteidigen. Es bedeutet aber auch, dass wir uns niemals auf die Niederungen von Terroristen einlassen dürfen und auch mit unseren engsten jüdischen Freundinnen und Freunden in Israel eine langfristige, nachhaltige Lösung für alle finden. Der Verteidigungskrieg Israels muss somit das Völkerrecht wahren, die humanitäre Hilfe darf nicht unter die Ketten kommen. Und bevor die Panzer rollen, müssen wir die Frage beantwortet haben, was danach kommt.

Diese nachhaltige Lösung findet sich aber langfristig nicht im Krieg, sondern nur im friedlichen Miteinander. Und dieses friedliche Miteinander wiederum ist dem Regime in Teheran und der Hamas ein Dorn im Auge. Es entzieht ihnen die Kraft für ihren heimtückischen Terror, ist aber, wenn wir langfristig denken, die einzige Lösung für ein sicheres Israel und ein Palästina, das frei von Terror und Hass ist.

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Autor*innen

Christoph Bautz ist Diplom-Biologe und Politikwissenschaftler. Er gründete 2002 gemeinsam mit Felix Kolb die Bewegungsstiftung, die Kampagnen und Projekte sozialer Bewegungen fördert. 2004 initiierte er mit Günter Metzges und Felix Kolb Campact. Seitdem ist er Geschäftsführender Vorstand. Zudem ist er Mitglied des Aufsichtsrats von WeMove, der europaweiten Schwesterorganisation von Campact, sowie der Bürgerbewegung Finanzwende. Alle Beiträge

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