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Frauen* der Wendegeneration: Transformationskompetenz heben

In wenigen Wochen wählen Thüringen, Sachsen und Brandenburg neue Landesregierungen. In allen drei Bundesländern führt die AfD in den Umfragen. Mediale Diskussionen kreisen oft um den "problematischen Osten". Inken Behrmann schreibt über die andere, übersehene Seite: Ostdeutsche Frauen* der Wendegeneration, die Transformationskompetenz entwickelt haben – eine Fähigkeit, die wir bei den anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft dringend brauchen.

Eine Kunstinstallation anlässlich des Tages der Deutschen Einheit 2018 am Brandenburger Tor in Berlin zeigt junge Menschen in einem historischen Foto. Sie sitzen auf der gerade geöffneten Mauer zwischen West- und Ostdeutschland. Unter ihnen steht geschrieben: Freedom (Freiheit).
Kunstinstallation anlässlich des Tages der Deutschen Einheit 2018 am Brandenburger Tor in Berlin. Foto: IMAGO / Müller-Stauffenberg

1. September, 18 Uhr, Wahlsonntag in Thüringen und Sachsen. Im ARD-Fernsehen schießen die bunten Balken in die Höhe. Schon jetzt wissen wir: Der blaue Balken wird erschreckend hoch sein. Anschließend fragt die Moderation die Expert:innen: Warum wählen so viele Menschen die AfD? Zwei Faktoren, die immer wieder ins Feld geführt werden, sind der Überhang an Männern und die Transformationsmüdigkeit der Wendeverlierer:innen in Ostdeutschland. Doch dieser Blick fokussiert einseitig die Menschen – häufig Männer –, für die die Wiedervereinigung eine rein negative Erfahrung war. Demgegenüber stehen schon lange Ostdeutsche der Wendegeneration, die nach der Wiedervereinigung Transformationskompetenz erworben haben und diese in die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen einbringen.

Wendegeneration:

Zur „Wendegeneration“ gehören ca. 2,4 Millionen Menschen, die zwischen 1973 und 1984 in der DDR geboren wurden. Ihre Kindheit erlebten sie in der DDR, ihre Jugend und junge Erwachsenenzeit schon in der BRD – und in einer Zeit des Systemwechsels mit vielen neuen Freiheiten, aber auch orientierungslosen Eltern, Lehrer:innen und Autoritätspersonen. Sie werden auch die „Dritte Generation der DDR“, „Generation der Unberatenen“ oder „Wendekinder“ genannt.

In patriarchalen Gesellschaften neigen wir dazu, Männer in den Blick zu nehmen und Frauen die Schuld an ihrem Unglück zu geben. So schwingt in der These, dass der Männerüberhang im Osten eine Ursache für die hohe AfD-Wahl ist, gelegentlich auch mit: Die qualifizierten Frauen* haben sich in den Westen abgesetzt – und im Osten frustrierte und einsame Männer zurückgelassen. Wenden wir unseren Blick aber jenen Frauen (und auch Männern) zu, die die Transformation genutzt haben, dann lernen wir etwas Wichtiges hinzu – nämlich, wie wir ihre Transformationserfahrungen und -kompetenzen gesellschaftlich so nutzen können, dass wir kommende Veränderungen inklusiver und besser für alle gestalten.

Kathleen aus Kosakenberg hat es geschafft

„1997 habe ich, Kathleen, Kosakenberg verlassen. Fast alle aus meiner Klasse sind weggegangen. Wir machten noch zusammen Abitur und dann verteilten wir uns in alle Himmelsrichtungen. Nein, das stimmt nicht […] Die meisten […] gingen in eine Richtung: nach Westen.“[1] Mit diesen Zeilen beginnt Sabine Rennefanz ihren Roman „Kosakenberg“. Er handelt von Kathleen, einer Frau in den Dreißigern, geboren im brandenburgischen Kosakenberg und ausgezogen in den Westen. Kathleen studiert in Berlin, lebt dann in Buenos Aires und geht schließlich nach London, wo sie bei einer exklusiven Designzeitschrift arbeitet. Sie ist beruflich erfolgreich und sogar auf der Gartenparty der Queen zugegen. Kurzum: Sie hat es geschafft.

Kathleen steht für viele ostdeutsche Frauen* in ihrer Generation

Mit ihrer Protagonistin Kathleen reflektiert Sabine Rennefanz die Erfahrungen einer Gruppe von Frauen in der Wendegeneration: Sie sind nach dem Schulabschluss in die Ferne gezogen, haben studiert, Netzwerke geknüpft und Karriere gemacht. Natürlich haben nicht nur Frauen* diese Schritte gemacht, dennoch handelt es sich um ein vorrangig weibliches Phänomen: Gerade unter den jungen Menschen unter Dreißig, die zwischen 1991 bis 2005 die ostdeutschen Bundesländer verließen, waren zwei Drittel Frauen.[2

Ostdeutsche Transformationskompetenz 

Auch die Journalistin und Autorin Jeannette Gusko gehört zu dieser Gruppe ostdeutscher Frauen: 1984 in Ost-Berlin geboren, zog sie zunächst nach Sydney, dann nach Chambéry und New York, es folgten Barcelona und Leipzig sowie schließlich Braunschweig. Heute ist sie Co-Chefredakteurin des Recherchenetzwerks „Correctiv“. In ihrem Buch „Aufbrechen. Warum wir jetzt Menschen brauchen, die große Umbrüche bewältigt haben“ entwickelt sie auf Grundlage ihrer eigenen Transformationserfahrungen sowie anhand von Interviews Bausteine für „Transformationskompetenz“.[3] Über diese Kompetenz verfügen oftmals Menschen, die bereits Erfahrungen mit Transformationen gemacht haben: Sie konnten „bestimmte Verhaltensmotivationen, Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale aufbauen“[4]. Gerade die Ostdeutschen, die die neuen Freiheiten im Zuge der Wiedervereinigung nutzen konnten und sich in neuen Systemen zurecht gefunden haben, konnten Transformationskompetenz aufbauen, so Guskos Argument. 

Aus Transformationserfahrungen entstehen Kompetenzen

Viele Ostdeutsche in der Wendegeneration nutzten ihre neuen Freiheiten und verließen ihre Heimat. Sie fanden sich in neuen Ländern und Umfeldern ein und einige wurden dort erfolgreich – das erfordert viel Selbstdisziplin, Leistungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit.[5] Davon erzählt auch Kathleens Geschichte: Für ihren beruflichen Erfolg musste sie viel arbeiten und sich neuen Situationen stellen – etwa einen Job in London beginnen, obwohl sie kaum Englisch sprach.[6] Immer wieder fühlt Kathleen sich fremd – bei Engländer:innen in London ebenso wie zwischen Westdeutschen in Berlin. Um ihre Ziele zu erreichen, passt sie sich den fremden Gepflogenheiten an. Und so verändert sich nach und nach auch Kathleen selbst. Wenn sie in ihr brandenburgisches Herkunftsdorf zurückkehrt, fühlt sie sich Zuhause und fremd zugleich. Trotz ihrer inneren Zerrissenheit ist sie stolz auf ihre Karriere und ihren sozio-ökonomischen Status – und denkt manchmal fast überheblich über jene, die in Kosakenberg blieben.

Aus der Erfahrung, sich in neuen Städten, Ländern und (Klassen-)Umfeldern einzubringen, entstehen konkrete Kompetenzen. Menschen wie Kathleen haben nicht nur gelernt, selbstdiszipliniert zu arbeiten und Risiken einzugehen, sondern auch verschiedene Perspektiven einzunehmen und zusammenzuführen. Teamkompetenz und gute Netzwerke sind eine weitere Transformationskompetenz, die hilft, durch wechselhafte und unsichere Situationen zu navigieren.[7]

Literatur als Reflektionsraum

Um aus Transformationserfahrungen Kompetenzen zu entwickeln, ist es besonders wichtig, schwierige und schmerzhafte Erfahrungen zu reflektieren, sie aufzuarbeiten und anzuerkennen.[8] Für die Wendegeneration findet diese Reflektion auch und gerade in der Literatur statt – und dass insbesondere viele Frauen die Wiedervereinigung als Chance nutzten, zeigt sich auch darin, dass viele Autorinnen der Wendegeneration ihre Stimme geben. Die Zeit-Journalistin Jana Hensel legte den Grundstein schon 2002 mit ihrem Buch „Zonenkinder“, Manja Präkels reflektierte mit ihrem Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2019) die gesellschaftlichen Zerwürfnisse im Osten und die Baseballschlägerjahre. Und im vergangenen Jahr fügte Anne Rabe mit ihrem Buch „Die Möglichkeit von Glück“ der ostdeutschen Vergangenheitsaufarbeitung eine wichtige Betrachtung von familiärer und gesellschaftlicher Täterschaft hinzu. Frauen der Wendegeneration prägen die Identitätsbeschreibung – und das allein ist in einer noch immer patriarchalen Gesellschaft bereits ziemlich erstaunlich.

Wir brauchen kollektive Transformationskompetenz

Transformationskompetente Menschen können sich Gusko zufolge dank ihrer eigenen Erfahrungen besonders gut vorstellen, dass sich politische und wirtschaftliche Systeme sowie Gesellschaften verändern – sie haben den Systemwechsel schließlich schon einmal erlebt. Anstehende Veränderungen können sie daher auch besonders früh wahrnehmen und sich darauf vorbereiten.[9] Jeannette Gusko plädiert daher dafür, transformationskompetente Menschen – zu denen sie auch Klassen- und Bildungsaufsteiger:innen sowie Menschen mit Migrationshintergrund zählt – in Führungspositionen zu befördern. Wenn uns transformationskompetente Menschen führen, dann kommen wir besser durch die anstehenden Veränderungen, so Guskos Annahme.[10] Offen bleibt aber vor allem eine Frage: Wie können wir nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Transformationskompetenz entwickeln? 

Das Netzwerk „3te Generation Ost“ hat Faktoren entwickelt, die dafür von Bedeutung sein könnten – und auch diese beschreibt Gusko in ihrem Buch: Neben der Möglichkeit zur Reflektion sind die Unterstützung von Außenstehenden sowie sichere Netzwerke und Erfahrungsräume besonders wichtig.[11] Sie können entscheidend dazu beitragen, Transformationserfahrungen in in neue Fähigkeiten und Kompetenzen zu überführen, die in Wandelsituationen dann wieder abgerufen werden können.  

Die Frauen in den Blick nehmen und Kompetenzen gesellschaftlich verankern

Wenn wir also kollektive Transformationskompetenz fördern wollen, sollten wir als erstes solche Erfahrungsräume, Unterstützungen und Reflexionsmöglichkeiten breiter gesellschaftlich verankern – beispielsweise in Schulen, Unternehmen und Vereinen. Hinzu kommen sollten kollektive Fähigkeiten: Dazu gehört, sich gemeinsam zu organisieren, gemeinschaftlich schwierige Entscheidungen zu fällen und zusammen Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen. All das kann verhindern, dass Menschen in Zeiten des Wandels vereinzeln. Die Erfahrungen, Reflektionen und das Wirken insbesondere von Frauen* in der Wendegeneration geben gute Anstöße, auch gesamtgesellschaftlich transformationskompetent zu werden. 


Quellenverweise

[1] Sabine Rennefanz (2024): „Kosakenberg“, Aufbau-Verlage: Berlin, S. 9. 
[2] Steffen Mau (2019): „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Tranformationsgesellschaft“, Suhrkamp: Berlin, S. 194, f.
[3] Jeanette Gusko (2023): „Aufbrechen. Warum wir jetzt Menschen brauchen, die große Umbrüche bewältigt haben“, Atrium-Verlag: Zürich.  
[4] ebd., S. 15.
[5] ebd., S. 41, 84, 95.
[6] Rennefanz (2024), „Kosakenberg“, S. 24.
[7] Gusko (2023): „Aufbrechen“, S. 95.
[8] ebd., S. 23-24.
[9] ebd., S. 53, 89.
[10] ebd., S. 106, 110.
[11] ebd., S. 23-24.

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Autor*innen

Inken Behrmann ist für Klimaschutz und Feminismus unterwegs. Nachdem sie als Campaignerin bei Campact und in der Klimabewegung Kampagnen für Klimaschutz organisiert hat, promoviert sie aktuell an der Universität Bremen. Für den Campact-Blog schreibt sie Texte gegen das Patriarchat. Alle Beiträge

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