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Weihnachten: Warum über Marias Erfahrung mit der Geburt Jesu nicht gesprochen wird

Weihnachten, die Geburt Jesu Christi – und seine Mutter Maria verkommt in der Geschichte zur Randfigur. Dabei ist die Geburt ein so wichtiger, lebensverändernder Prozess für eine Frau* und Mutter – und damit für einen großen Teil der Gesellschaft. Inken Behrmann über ein gesellschaftliches Tabu, das keines sein dürfte.

Eine sehr klassische Darstellung an Weihnachten: Die Krippenfiguren Maria und Josef stehen neben dem Kind Jesus
Eine sehr klassische Darstellung an Weihnachten: Die Krippenfiguren Maria und Josef stehen neben dem Kind Jesus. Foto: IMAGO / Eibner

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ – Jedes Jahr dieselbe Geschichte zu Heiligabend. Schon beim Gedanken an den weihnachtlichen Gottesdienstbesuch kommt Langeweile auf. Doch stellen wir uns einmal vor, die Predigt würde in diesem Jahr anders klingen. Statt die Geburt von Jesus nur in einem Halbsatz abzuhandeln, könnte die Geschichte dieses Jahr in etwa so lauten:

„Langsam bekam Maria immer stärkere Schmerzen in ihrem Unterleib und Rücken. Doch auch nach Stunden des Schmerzes, als sie nicht mehr weiter wusste, war noch immer keine Hebamme in Sicht. Maria bekam Angst – schließlich wusste sie, wie oft Mütter und ihre Kinder bei der Geburt starben. Als sie sich übergeben musste, war ihr das unangenehm, aber Joseph hielt ihre Haare zurück. Lange dauerte das mit den Wehen, Maria geriet in einen Trance-Zustand. Doch nachdem sie es endlich geschafft hatte, den Kopf des Kindes herauszupressen, ging es plötzlich ganz schnell. Das Kind war da. Joseph wickelte es in Windeln und legte es in die Krippe – Maria hatte dafür wirklich keine Kraft mehr.“

So eine Erzählung in der Kirche: Fändest Du das eklig? Dem Anlass unangemessen? Für anwesende Kinder nicht zumutbar? Würden Verwandte neben Dir vielleicht sogar die Kirche verlassen? Stimmt: Es ist kaum vorstellbar, dass zu Weihnachten so über Marias Erlebnisse in der Geschichte gesprochen wird. Aber: Warum eigentlich nicht?

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Marias Perspektive auf die Geburt? Yuck.

Tatsächlich liest man vom Geburtsvorgang in der Bibel – nichts. Schon die männlichen Autoren der Weihnachtsgeschichte hatten kein Interesse an der Perspektive Marias auf die Geburt. Heute, fast 2000 Jahre später, hat sich daran kaum etwas geändert: Noch immer sprechen wir wenig über Geburten als persönliche und gesellschaftliche Erfahrung. Und wenn doch, dann als medizinisches Risiko, oder als „natürlichen“ und instinktiven Ablauf. Der „Nestbautrieb“ oder Frauen, die „werfen“ sind nur zwei alltagssprachliche Beispiele. 

In beiden Diskursen haben Frauen* wenig zu melden: Geht es um die Geburt im medizinischen Sinn, werden sie zu Patient:innen unter ärztlicher Autorität. Wird Frauen auf der anderen Seite die instinkthafte Erfüllung als Mutter zugeschrieben, folgen sie einem als natürlich dargestellten gesellschaftlichen Skript. Die konkreten und unterschiedlichen Erfahrungen vieler Frauen* finden kaum Platz.

Auch als Frau, die keine Kinder geboren hat, finde ich das seltsam. Schließlich geht es hier um ein transformatives Ereignis für die Mutter, den:die Partner:in und das Kind – sowie das ganze Umfeld. Knapp 700.000 Frauen gebären im Jahr in Deutschland ein Kind. Doch statt Geschichten über diese Geburten zu erzählen, werden sie mit leichtem Ekel, Angst oder Scham quittiert: Frauen, die Details erzählen, wird Oversharing vorgeworfen – so werden sie mundtot gemacht. Wenn, dann erzählen Frauen* sich diese Geschichten untereinander.

To Be Born and To Give Birth: Geboren werden und Gebären

In diesem Jahr sind mir zwei Beispiele begegnet, wie es auch anders geht: Die Künstlerin Emilia Bergmark-Jiménez hat über drei Jahre 40 Paare bei ihren Geburten begleitet und in allen Phasen Fotografien und Videos aufgenommen. Ihre Fotoausstellung unter dem Titel „To Be Born and To Give Birth“ zeigt Geburten in unterschiedlichsten Situationen: alleine, zuhause, im Krankenhaus, als Paar oder mit Freund:innen. Als Publikum können wir Anteil nehmen am Schmerz, an der Konzentration, der überwältigenden Freude, an Trance, Schock und Ausdauer der Frauen* und Familien. Die Ausstellung zeigt, wie vielfältig und unterschiedlich Geburten, Frauen*, die gebären, Babys und Partner:innen sind, ihre Umstände und Gefühle.

Ein zweites Beispiel ist die Kolumnen-Reihe der „Wehenschreiberin“, einer Hebamme, die im Magazin der Süddeutschen Zeitung 2017/2018 ein Jahr lang von ihren Erlebnissen im Kreißsaal berichtete. Die Geschichten sind witzig, absurd, traurig – und ganz unterschiedlich. In der Hauptrolle sind Frauen, die während der Geburt über ganze Stationen MO-TH-ER-FU-CK-ER rufen, oder die erst alleine gebären wollen, und sich dann doch freuen, dass die Mutter und Freund:innen dabei sind. 

Die Hebamme und Kolumnistin Maja Böhler berichtet von Freudentränen, Entbindungspflegern (männlichen Hebammen), die sich aufopferungsvoll kümmern und nicht akzeptiert werden, auch von kleinen und stillen Geburten und vielem mehr. Sie verarbeitet die echten Erlebnisse im Kreißsaal kulturell und befreit sie dabei von gesellschaftlichen Klischees. Beide Beispiele, die Bilder in der Ausstellung und die Kolumne, erzählen bewegende Geschichten von Menschen, die eine der beeindruckendsten Erfahrungen ihres Lebens machen.

Geschichten prägen Gesellschaft – und ermöglichen Veränderungen

Wie wir Geschichten erzählen, was und wer vorkommt, was wir weglassen oder überspielen, bestimmt, wie wir unsere Wirklichkeit und uns selbst darin verstehen. Die Geschichten jenseits von medizinischer Risikofokussierung und naturalisierenden Schablonen zeigen Frauen als Akteur:innen in der Geburt, die sich zum Teil in einem medizinischen Umfeld – dem Krankenhaus – befinden, aber den Geburtsprozess maßgeblich (mit-)gestalten. Sie brechen mit unserer patriarchal geprägten Gesellschaft, die meistens über die Erlebnisse, Themen und Befindlichkeiten von Männern spricht – und Frauen* selbst in der Geburt in die Passivität schiebt. 

Doch das Sprechen hat auch praktische politische Folgen: Nur, wenn gesellschaftliche Erfahrungen im Diskurs verhandelt werden, können Probleme aufgezeigt und politisch priorisiert werden. Ein Beispiel dafür ist die Debatte über Gewalt während der Geburt: Verstärkt durch ein Deutschlandfunk-Feature im Jahr 2020 berichteten immer mehr Frauen* von Gewalterlebnissen im Kreissaal durch Ärzt:innen und Hebammen. Im diesjährig beschlossenen Aktionsplan der Bundesregierung „Gesundheit rund um die Geburt“ ist das Thema Gewalt nun als Forschungsthema aufgenommen. Auch im gesundheitspolitischen Fachdiskurs spielt die frauen*zentrierte Geburt eine immer größere Rolle – und verändert hoffentlich zukünftige Geburtserlebnisse von Frauen* positiv. Aktuell jedoch werden in vielen Krankenhäusern Geburtsstationen geschlossen, weil sie sich finanziell nicht lohnen – und auch die Situation von Hebammen ist prekär. Nur, wenn diese Situationen gesellschaftlich besprochen werden, kann es genug politischen Druck geben, sie besser zu finanzieren.

Weihnachten ist die Zeit der Geschichten

Dass in der Bibel der Geburtsvorgang fehlt, ist auch auf die Zusammenstellung der kanonischen Texte durch Männer zurückzuführen. Im Apokryphen-Text des Jakobus, der zu den Texten gehört, die schlussendlich nicht in den Bibelkanon aufgenommen wurden, holt Josef eine Hebamme, die bei der Geburt hilft und sogar als erste erkennt, dass Jesus der Heiland des Christentums ist. Die Kirchenväter, die zwischen dem 4. und 16. Jahrhundert immer wieder darüber entschieden, welche Texte in den christlichen Bibel-Kanon aufgenommen werden sollten, hielten sie schließlich offenbar für unwichtig oder machten die Frau* als entscheidende Akteurin sogar absichtlich unsichtbar.

Schon seit mehr als 2000 Jahren ringen wir um die Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen, wer darin vorkommt, handlungsmächtig und wichtig ist. Die klassische Weihnachtsgeschichte ist nun, wie sie ist. In unserer heutigen Gesellschaft aber ist nicht haltbar, eine der prägendsten Erfahrungen eines jeden Menschen bei der Geburt und vieler erwachsener Frauen* beim Gebären auszublenden, unbesprechbar zu machen und zu tabuisieren. In den Weihnachtsfeiertagen erzählen viele Familien sich gegenseitig nicht nur die Weihnachtsgeschichte, sondern auch ihre gemeinsame(n) Geschichte(n). Vielleicht ist diesmal ja auch die ein oder andere über eine Geburt dabei.

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Autor*innen

Inken Behrmann ist für Klimaschutz und Feminismus unterwegs. Nachdem sie als Campaignerin bei Campact und in der Klimabewegung Kampagnen für Klimaschutz organisiert hat, promoviert sie aktuell an der Universität Bremen. Für den Campact-Blog schreibt sie Texte gegen das Patriarchat. Alle Beiträge

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