Bundestagswahl WeAct Feminismus Globale Gesellschaft Poesie AfD Demokratie Gemeinnützigkeit Rechtsextremismus Atomkraft

Zukunft abgesagt?

Der schwarz-rote Koalitionsvertrag ist insgesamt eine Enttäuschung – und ein Weckruf für alle, die an Klimaschutz, Gerechtigkeit und ein demokratisches Europa glauben.

Markus Söder, Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Saskia Esken geben bei einer Pressekonferenz im Paul-Löbe-Haus die Einigung auf eine Koalition bekannt und stellen den schwarz-roten Koalitionsvertrag vor.
Markus Söder, Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Saskia Esken stellen den schwarz-roten Koalitionsvertrag vor. Foto: IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Ehrlich gesagt: Als am Mittwoch die Nachricht über die Ticker lief, dass der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD steht, habe ich erstmal aufgeatmet. Denn von einem Scheitern hätte vor allem die AfD profitiert. Sie ist schon jetzt in den Umfragen auf einem Allzeithoch von 24 Prozent. Hoffentlich regiert Schwarz-Rot jetzt halbwegs passabel – und gräbt damit der AfD wenigstens ein Stück weit das Wasser ab.

Willkommen im Campact-Blog

Schön, dass Du hier bist! Campact e.V. ist eine Kampagnen-Organisation, mit der sich über 3,5 Millionen Menschen für progressive Politik einsetzen. Im Campact-Blog schreiben das Team und ausgezeichnete und versierte Gast-Autor*innen über Hintergründe und Einsichten zu progressiver Politik.

Was bringt der Koalitionsvertrag aus progressiver Sicht?

Doch wie ist der Koalitionsvertrag aus progressiver Sicht inhaltlich einzuschätzen? Und was bringt er für zentrale Themen von Campact – für Klimaschutz, Agrarwende sowie die Verteidigung von Demokratie und Zivilgesellschaft vor extrem rechten Angriffen? 

Es gibt viel zum Inhalt des Koalitionsvertrags zu sagen. Aber mir fiel als erstes auf, was nicht drin steht: Die Zukunft der Europäischen Union ist – jenseits von den üblichen Satzbausteinen – eine große Leerstelle. Dabei wäre der Vertrag eine große Chance gewesen, eine Antwort auf die Trumps, Putins und Xis, diese fossile Internationale der Autoritären, zu geben. Denn die heißt, davon bin ich überzeugt: Europa.

Wir brauchen mehr Europa

Nur mit einem großen Schritt nach vorne und einer Vertiefung des europäischen Einigungsprojektes werden wir in einer Welt bestehen, in der immer mehr das Recht des Stärkeren gilt – egal ob bei autoritären Regimen oder riesigen Konzernen. Nur mit einer starken EU können wir die Mammutaufgabe des ökologischen wie digitalen Umbaus unserer Gesellschaft demokratisch bewältigen. Dafür brauchen wir mehr Europa.

Und was das heißt, ist sehr konkret: ein deutlich gestärktes europäisches Parlament und eine gemeinsame Sozial-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik. Gemeinsame Anleihen, eine Besteuerung von Superreichen und ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips im Rat. Schluss mit Standortkonkurrenz, Kürzungspolitik und nationaler Kleinstaaterei. Aber genau so eine mutige Zukunftsvision fehlt im Koalitionsvertrag. 

Endlich: Reform der Schuldenbremse

Immerhin: Eine große progressive Veränderung gibt es. Die Union hält nicht mehr ideologisch an der Schuldenbremse fest. Endlich investiert die Regierung per Sondervermögen nicht nur in die Verteidigung, sondern auch in die marode Infrastruktur und Klimaschutz. Mehr noch, sie will die Schuldenbremse reformieren. Doch so erfreulich diese 180-Grad-Wende ist, so katastrophal ist ihr Zeitpunkt. Wahlkampf hat Merz noch mit der Schuldenbremse gemacht. Eine solche Unaufrichtigkeit gegenüber den Wähler*innen stärkt die AfD. Zudem ist noch offen, wie weit die Investitionsbremse dann wirklich gelöst wird und wie viele Klientelgeschenke (Stichwort Gastrosteuer) mit dem Geld für Zukunftsinvestitionen finanziert werden.

Natürlich gibt es weitere Lichtblicke: vom höheren Mindestlohn über die Gemeinnützigkeit von Medien bis zu mehr Geld für tierfreundliche Ställe. Außerdem ist es uns als aktive Zivilgesellschaft gemeinsam gelungen, zentrale Angriffe auf die Demokratie – wie beim Informationsfreiheitsgesetz – abzuwehren. Das macht Mut. 

Aber politisch reicht das heute nicht mehr. Denn:

➡️ Beim Klima- und Artenschutz fehlen konsequente Schritte. Dafür gibt es zahlreiche Zugeständnisse an die fossile Lobby – wie eine Erhöhung der Pendlerpauschale, neue Gaskraftwerke und das Outsourcing von Klimaschutz in den globalen Süden. Der Vertrag bleibt hier völlig unambitioniert und setzt ohne ausreichenden sozialen Ausgleich weiterhin auf fossile Übergangstechnologien. Währenddessen erleben wir schon Anfang April eine Dürre, wie sonst höchstens im Hochsommer. Zugleich wird die Agrarförderung, von der vor allem industrielle Megabetriebe profitieren, zementiert. Das Höfesterben geht so ungebremst weiter. Und Insekten- und Pflanzengifte sollen nun sogar leichter zugelassen werden – schrecklich für die Artenvielfalt.

➡️ Bei der sozialen Gerechtigkeit wurden große Chancen vergeben. Zwar gibt es endlich mehr öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz. Aber sie reichen bei weitem nicht aus. Die Vermögensungleichheit wird überhaupt nicht angepackt: keine Vermögenssteuer, keine Reform der Erbschaftssteuer. Die Entlastung der unteren Einkommen bleibt Stückwerk. Dafür gibt es bei der Körperschaftsteuer ausgerechnet neue Entlastungen für große Unternehmen. Dabei ist Deutschland schon eines der ungleichsten Länder Europas.

➡️ Die neue Koalition spielt weiter das Spiel der Rechtsextremen und ihrer Ablenkungsdebatten mit und geht ausgerechnet – siehe Bürgergeld und Migration – hart gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft vor. So werden die Rechte von Geflüchteten aus der Ukraine eingeschränkt – ein fatales Signal in einer Zeit, in der Solidarität dringend gebraucht wird. Politische Handlungsfähigkeit wird damit nur simuliert und keines unserer Probleme gelöst, davon profitiert die AfD.

Koalitionsvertrag: Eine Dokumentation verpasster Chancen

Ja, gemessen am Wahlkampf der Union und der Hetze von Rechtsaußen hätte es deutlich schlimmer kommen können. Aber diese Form visionsloser Krisenverwaltung ist leider eine Versicherung dafür, dass es tatsächlich schlimmer kommen wird. Denn unsere Demokratie steht vor wirklich gewaltigen Aufgaben: Die Klimakrise und das Artensterben eskalieren, die soziale Ungleichheit wächst. Und die extreme Rechte wird immer stärker. In dieser Lage braucht es eine Politik, die Mut beweist, Verantwortung übernimmt und unser Land entschlossen in eine klimagerechte Zukunft führt. Angesichts dieser Herausforderungen ist der Koalitionsvertrag insgesamt leider eine Dokumentation verpasster Chancen.

Also alles hoffnungslos? Überhaupt nicht. 

Dass es anders geht, haben wir erst gerade wieder gemeinsam bewiesen. Hunderttausende Bürger*innen unterstützten mit Campact und auf unserer Plattform WeAct Petitionen gegen die Abschaffung des Deutschlandtickets, für einen Mandatsverlust bei Volksverhetzung und gegen eine Renaissance der Atomkraft. Unser Protest hat gewirkt – trotz massiver Lobbykampagnen. Die Atomkraftwerke bleiben aus, der Mandatsverlust bei Volksverhetzung steht im Koalitionsvertrag und auch das Deutschlandticket bleibt. 

Wir können Hoffnung schaffen!

Diese Erfolge zeigen: Unser gemeinsames Engagement lohnt sich – und Hoffnung ist nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das wir als Zivilgesellschaft gemeinsam organisieren können. Anlässe für Engagement und Bewegungen wird es in der neuen Legislaturperiode genug geben. 

Wir werden bei Campact mit all unserer Kraft dazu beitragen.

Bestelle den Campact-Newsletter und werde aktiv

TEILEN

Autor*innen

Christoph Bautz ist Diplom-Biologe und Politikwissenschaftler. Er gründete 2002 gemeinsam mit Felix Kolb die Bewegungsstiftung, die Kampagnen und Projekte sozialer Bewegungen fördert. 2004 initiierte er mit Günter Metzges und Felix Kolb Campact. Seitdem ist er Geschäftsführender Vorstand. Zudem ist er Mitglied des Aufsichtsrats von WeMove, der europaweiten Schwesterorganisation von Campact, sowie der Bürgerbewegung Finanzwende. Alle Beiträge

Auch interessant

Bundestagswahl, WeAct Das steht im Koalitionsvertrag – dank Euch Bundestagswahl, CDU, Klimakrise, SPD Koalitionsverhandlungen und Klima – eine Krise Bundestagswahl, Feminismus Weniger Frauen im Bundestag: Warum das gefährlich ist Bundestagswahl, Rechtsextremismus Wie Du Dich dem Rechtsruck entgegenstellen kannst AfD, Bundestagswahl Gegen den Gewöhnungseffekt Bundestagswahl, Montagslächeln Montagslächeln: Kanzler Merz – Ein neues Licht am Horizont? Bundestagswahl, Demokratie Taktisch wählen – und was Du kurz vor der Wahl sonst noch wissen musst Bundestagswahl, Klimakrise Politik ohne Plan – warum wählen trotzdem wichtig ist Antirassismus, Bundestagswahl, Demokratie Wem nützt das? Bundestagswahl, Campact, Demokratie Kleinparteien-Kampagne: Warum verlorene Stimmen der AfD helfen