Demokratie
Demokratie – aber irgendwie ohne uns?
Erinnerst Du Dich an die 90er-Jahre? An den Optimismus nach dem Fall der Mauer, an die Hoffnung, dass nun der Siegeszug der Demokratie bevorsteht? Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach damals sogar vom „Ende der Geschichte“. Seine These: Die Prinzipien von Demokratie und Marktwirtschaft würden sich weltweit durchsetzen.
Ein paar Jahrzehnte später ist die Bilanz ernüchternd. Der Liberalismus hat sich wirtschaftlich durchgesetzt – keine Frage. Doch die Demokratie ist kaum wiederzuerkennen. Immer weniger Menschen leben in freiheitlichen Systemen. Demokratien werden von außen angegriffen und von innen ausgehöhlt. Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen von ihr entfremdet. Wahlen, Talkshows, politische Debatten – sie laufen, aber sie berühren kaum noch. Vertrauen schwindet, die gesellschaftliche Polarisierung nimmt zu.
Es ist, als hätte jemand der Demokratie den Stecker gezogen.
Anselm Renn ist ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler und Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. Im Campact-Blog schreibt er zu den Themen Direkte Demokratie und Volksentscheide.
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Demokratie als Maschine – und warum sie stottert
Wenn Menschen an Demokratie denken, denken sie oft an Institutionen: den Bundestag, Parlamente, Gesetze. Demokratie erscheint wie eine Maschine – Menschen und Ideen gehen hinein, Debatten finden statt, Gesetze kommen heraus. Wenn es hakt, fordern wir in der Zivilgesellschaft Reformen, in Form von mehr Transparenz, einem besseren Wahlrecht oder einem verpflichtenden Lobbyregister. Das ist auch alles richtig.
Auch wir bei Mehr Demokratie haben lange nur so gedacht: Das politische System als technisches Konstrukt, mit Stellschrauben, Hebeln, Outputs. Aber was, wenn die Maschine nicht mehr greift, obwohl alle Teile formal funktionieren? Was, wenn Vertrauen fehlt? Wenn Beteiligung zwar möglich ist, aber emotional niemand mehr andockt?
Vielleicht liegt das Problem nicht nur in der Struktur, sondern in unserem Demokratiebild.
Demokratie als Beziehung – nicht nur als Regelwerk
Was wäre, wenn Demokratie weniger ein Mechanismus ist und mehr eine Beziehung? Stell Dir Deine wichtigste Beziehung vor: Deine Großmutter, Deinen besten Freund, Dein Kind. Was spürst Du? Vielleicht ein Gefühl von Sicherheit, ein inneres Ausatmen.
In solchen Beziehungen entsteht Veränderung – nicht durch Macht, sondern durch Vertrauen. Genau darin liegt ihr demokratisches Potenzial. Denn: Eine gute Beziehung lebt nicht von perfekten Argumenten, sondern von Resonanz, Zuhören, Verlässlichkeit. Warum sollten wir diese Qualitäten nicht auch auf die Politik übertragen?
Embodied Democracy – Demokratie beginnt im Körper
Hier setzt das Konzept der Embodied Democracy an. Es versteht Demokratie nicht nur als Verfahren oder Herrschaftsform, sondern als verkörperte Praxis politischer Orientierung.
Neurowissenschaftliche Erkenntnisse, etwa von Lisa Feldman Barrett, zeigen: Entscheidungen entstehen nie rein kognitiv. Sie wurzeln in körperlich-emotionalen Prozessen, in Stimmungen, Spannungen, innerem Wissen. Der Körper ist kein Nebenschauplatz des Politischen – er ist sein Ursprung.
Was wir spüren – Unbehagen, Enge, Stille – ist oft der Anfang politischer Urteilsbildung. Die Philosophin Hannah Arendt nannte Urteilskraft die Fähigkeit, zwischen sich und anderen zu vermitteln. Embodied Democracy macht daraus: Politische Urteilskraft ist verkörpert. Sie wächst im Zusammenspiel von Fühlen, Wahrnehmen und Deuten.
Was nicht gefühlt werden darf, kann nicht verhandelt werden
Viele politische Konflikte entstehen nicht, weil Menschen uninformiert sind – sondern weil bestimmte Gefühle keinen Platz haben. Angst, Scham, Wut oder Trauer gelten oft als unpassend im politischen Raum. Doch genau dort beginnt Urteilskraft: im Ernstnehmen auch der vorsprachlichen Regungen.
Der Philosoph Eugene Gendlin nennt das den „felt sense“: ein noch nicht in Worte gefasstes Spüren, das unser Denken leitet. Embodied Democracy lädt dazu ein, diesen inneren Raum politisch ernst zu nehmen. Denn was nicht gespürt werden darf, kann auch nicht verhandelt werden.
Bürgerräte als Resonanzräume
Klingt abstrakt? Ist es nicht. In Bürgerräten wird Embodied Democracy längst gelebt. Per Losverfahren ausgewählte Menschen kommen zusammen, um gesellschaftlich relevante Themen zu beraten. In gut moderierten Räumen entsteht psychologische Sicherheit: Jede Person darf sprechen. Niemand wird unterbrochen. Erst wenn jede Stimme gehört wurde, folgt die nächste Runde.
Das verändert alles. Denn Resonanz ist keine weiche Ergänzung zur Debatte – sie ist ihre Grundlage. In Irland führten solche Prozesse zu mehrheitsfähigen Lösungen in emotional aufgeladenen Fragen wie Abtreibung oder gleichgeschlechtlicher Ehe. Warum? Weil Menschen in Sicherheit sprechen konnten – und gehört wurden.
Demokratie im Tempo des verletzlichsten Anteils
Eine Demokratie, die auf Resonanz statt Lautstärke setzt, verändert auch das politische Tempo. Nicht die Lautesten geben den Takt vor – sondern die Verletzlichkeit. Das ist unbequem. Aber notwendig. Denn Beteiligung braucht nicht nur Zugang, sondern emotionale Sicherheit.
Embodied Democracy versteht Demokratie als Übung, nicht als Ideal. Fähigkeiten wie Ambiguitätstoleranz (die Fähigkeit, widersprüchliche oder mehrdeutige Informationen oder Situationen auszuhalten), Perspektivwechsel, Konfliktfähigkeit sind nicht angeboren – sie lassen sich kultivieren. In Schulen, Organisationen, Kommunen und in uns selbst.
Wer innerlich in Beziehung ist zu widersprüchlichen Anteilen, urteilt auch politisch differenzierter. Innere Pluralität wird zur Grundlage äußerer Demokratie.
Die vielleicht radikalste Einsicht von Embodied Democracy lautet: Es sind nicht Programme, die Wandel bringen, sondern Praktiken. Zuhören. Innehalten. Spüren. Neujustieren. Demokratie entsteht nicht in Theorien, sondern in Beziehungen. Sie lebt dort, wo Menschen einander begegnen mit offenem Herzen und wachem Verstand.
Und wenn Du das nächste Mal über Demokratie nachdenkst …
… dann denk nicht zuerst an Parlamente oder Institutionen. Denk an deine vertrauteste Beziehung. Denk daran, wie sich Sicherheit anfühlt. Wie Wandel möglich wird, wenn wir uns gehört fühlen. Wie Offenheit entsteht, wenn wir einander nicht bewerten, sondern wirklich zuhören.
Denn vielleicht beginnt Demokratie genau dort: im Körper. Im Gespräch. Im Fühlen.