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Eine katastrophale Kostenexplosion der Sozialausgaben gibt es nicht. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) irrt, wenn er behauptet: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“ Allerdings steht die soziale Marktwirtschaft unter Stress. So spricht nichts dagegen, über Lösungen für Probleme wie die Rentenversicherung nachzudenken. Auch die Unternehmen leisten augenblicklich weniger, als sie könnten.

Die Debatte über die Zukunft des Sozialstaates und seine angebliche Unfinanzierbarkeit geht hin und her. Vordergründig ausgelöst wurde sie durch Berechnungen über Löcher in den Bundeshaushalten ab 2027. Nun kursieren diverse Vorschläge für Kürzungen. Merz plant, fünf Milliarden Euro beim Bürgergeld zu streichen. Doch im Hintergrund wirken stärkere Kräfte: das Scheitern der Ampel-Regierung, der gesellschaftliche Rechtsdrift, der Wille der Union, mit harter Politik der AfD Stimmen abzunehmen, und die wirtschaftliche Stagnation.

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Die Sozialkosten explodieren nicht

Wichtig ist, die tatsächliche Entwicklung der Sozialkosten zu verstehen. Eine entscheidende Größe ist ihr Umfang im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Denn aus dem BIP bezahlt sie Gesellschaft alle Leistungen, die sie in Anspruch nehmen möchte. 2024 betrug die Sozialleistungsquote 31,2 Prozent des BIP. Ein Drittel dessen, was Deutschland insgesamt erwirtschaftet, dient der sozialen Sicherung.

Dieser Wert war schon mal höher, etwa während der Corona-Pandemie. 2020 betrug er 32,5 Prozent. Auch nach den Hartz-Reformen Mitte der 2000er Jahre erreichten die Sozialausgaben ein ähnliches Niveau. Das lässt sich aber nicht ganz genau sagen, weil die Zeitreihe seit 2010 etwas anders berechnet wird. Davon, dass der relative Anteil der Sozialkosten permanent nur wächst, kann jedenfalls in diesem Zeitraum keine Rede sein. Zwischen Anstiegen ging er auch wieder zurück. Seit 15 Jahren schwankt der Anteil im Verhältnis zum BIP um die 30 Prozent.

Ausgaben des Bundes sinken

Die Bundesausgaben für soziale Sicherung entwickeln sich ähnlich. 2023 lag der Anteil an allen Ausgaben „unter dem Niveau der Vor-Corona-Jahre und auch unter dem langfristigen Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2023“, so das Statistische Bundesamt. Um 2000 erreichten die Sozialkosten etwa 40 Prozent des Bundesetats, wuchsen auf 48 Prozent und verringerten sich auf 37 Prozent im Jahr 2024. Gemessen an ihren gesamten Ausgaben hat die Bundesregierung zuletzt also weniger Geld für die soziale Sicherung aufgewendet.

Höhere Sozialkosten durch Wiedervereinigung

In der längeren Frist geht der Trend allerdings nach oben. Nach der Wiedervereinigung 1990 lag die gesamtdeutsche Sozialleistungsquote, der Anteil am BIP, noch bei 25 Prozent. Heute erreicht sie Werte von deutlich über 30 Prozent. Ein wesentlicher Grund: Die hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland wurde in den 1990er Jahren abgefedert. Die Renten der dortigen Bevölkerung verbesserten sich auf Westniveaus.

Auch danach kam es mehrfach zu gewissen Anstiegen. Um den Jahrtausendwechsel lahmte die Wirtschaft. Das BIP sank, die Sozialkosten stiegen. Ähnliche Phänomene waren zu beobachten, als ab 2008 die Weltfinanzkrise einschlug und die Corona-Pandemie 2020 dazu führte, dass die Regierung viele Firmen vorübergehend schließen ließ. In solchen Situationen sind mehr Arbeitnehmer*innen als sonst auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen. „Das ist die Aufgabe des Sozialstaates: die Beschäftigten und Privathaushalte gegen die Krise abzusichern“, sagt Ökonom Achim Truger im Interview mit der taz. „Wofür haben wir ihn sonst?“, fragt der Wirtschaftsweise, der die Bundesregierung berät. „Der Sozialstaat ist ein Schutzfaktor, kein Krisenfaktor.“

Rentenzuschuss – erst teurer, dann billiger

Die Aufwendungen des Staates für die Rentenversicherung zeigen ein ähnliches Muster. Der Anteil der Steuereinnahmen, den der Bund als Zuschuss zur Alterssicherung zahlte, wuchs zwischen 1990 und 2005 von 15 auf über 30 Prozent. In den wirtschaftlich guten 2010er-Jahren nahm die Belastung dann aber deutlich ab, ebenso wie nach dem neuerlichen Anstieg während der Pandemie.

Das lässt sich einerseits als Entspannungssignal verstehen, andererseits sind die für die Rente notwendigen Beträge durchaus eindrucksvoll. Von den rund 500 Milliarden Euro, die der Bund 2025 insgesamt ausgeben kann, fließen allein 120 Milliarden Euro als Zuschuss an die Rentenversicherung. Das ist ungefähr jeder vierte Euro des Etats.

Gute Arbeit, längere Arbeit?

Angesichts dieser Größenordnung wundert es nicht, dass Reformen bei der Rente immer wieder zur Diskussion stehen. Hinzu kommt: Die geburtenstarken Jahrgänge der frühen 1960er Jahren verabschieden sich allmählich in den Ruhestand. In den Jahrgängen ihrer Kinder fehlen im Vergleich zur Elterngeneration jeweils hunderttausende Personen. Weniger Beschäftigte müssen bald mehr Rentner*innen finanzieren.

Daher die Frage: Können die Alten länger arbeiten – nicht bis 67, sondern zum Beispiel bis 68? Für Bauarbeiter und Dachdecker ist das wegen ihrer harten Jobs kaum möglich. Für Psycholog*innen, Beamt*innen, Architekt*innen, Journalist*innen und Software-Entwickler*innen vielleicht schon.

Gegenargument: Unterschiedliche berufsspezifische Altersgrenzen sind schwierig festzulegen. Jeder Gruppen- und Einzelfall bringt Gesichtspunkte pro und contra mit sich, inklusive schwer zu lösender Gerechtigkeitsdebatten.

Funktionierende Wirtschaft, weniger Soziallast

Was den Sozialstaat aber in jedem Fall in der Balance hält, sind gut laufende Unternehmen. Dann ist das BIP größer, die relativen Sozialkosten fallen schon dadurch automatisch geringer aus. Wir brauchen also konkurrenzfähige Produkte, zum Beispiel E-Autos, mehr Ökoenergie, damit der Strom billiger wird, eine bessere Infrastruktur, damit nicht Millionen Arbeitsstunden im Stau vergeudet werden. Zumindest für Letzteres hat die Regierung das neue Sondervermögen aufgelegt. Wenn die Wirtschaft funktioniert, bleibt der Sozialstaat bezahlbar.

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Autor*innen

Hannes Koch ist selbstständiger Wirtschaftskorrespondent in Berlin und Mitgründer des Journalistenbüros www.die-korrespondenten.de. Er schreibt über nationale und internationale Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Sozialpolitik, unter anderem für die Tageszeitung taz. Alle Beiträge

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