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„Satanisch“ und „gottlos“: Russlands Propaganda-Maschine geht gerne in die Vollen, wenn es um den Eurovision Song Contest (ESC) geht. Denn der ESC ist ziemlich queer, auf der Bühne und im Publikum. Das stößt Wladimir Putin übel auf – schließlich versucht der russische Präsident seit Jahren, queere Sichtbarkeit mit Gesetzen, Dekreten und Gewalt zurückzudrängen.

Spätestens seit dem Sieg des Drag-Künstlers Tom Neuwirth alias Conchita Wurst beim ESC 2014 soll es in Moskau die Idee gegeben haben, einen eigenen, alternativen Wettbewerb aufzusetzen. Nach dem Angriff auf die Ukraine schloss die Europäische Rundfunkunion Russland vom ESC aus – danach nahm der Plan noch einmal Fahrt auf.

Intervision: Traditionell und ohne Perversionen

In diesem Herbst hat es dann geklappt, den noch aus Sowjetzeiten stammenden Intervision-Wettbewerb wiederzubeleben. 23 Interpret*innen traten in Moskau vor rund 11.000 Zuschauer*innen auf, Russland übertrug die Show in Länder wie Katar, Saudi-Arabien und China. „Ich garantiere, dass es dort keine Perversionen und Verhöhnungen der menschlichen Natur geben wird“, versprach Russlands Außenminister Sergej Lawrow im Vorfeld.

Kein Sonderregister für trans* Personen – Nie wieder Listen gegen Minderheiten!

Mit Duc Phuc gewinnt ein queerer Sänger

Doch ein wirklicher Erfolg war die Show nicht. Die angepeilte Marke von einer Milliarde Zuschauer*innen verfehlte Intervision deutlich. Was dem Kreml im Nachhinein noch unangenehmer sein könnte: Trotz seiner klar anti-westlichen und traditionellen Ausrichtung gewann ein Sänger den Wettbewerb, der nicht wirklich in das von den Organisatoren ausgegebene Schema passt. Der Vietnamese Duc Phuc ist vermutlich queer und wurde mit dem Song More than love berühmt – das dazugehörige Video zeigt eine schwule Liebesgeschichte. Blöd gelaufen.

So politisch ist der ESC 

Aber nicht nur der Intervision-Wettbewerb scheitert an seinen selbst gesetzten Ansprüchen – dem ESC geht es ähnlich. Eigentlich will der Eurovision Song Contest unpolitisch sein. Eine verständliche Haltung, blickt man auf die ursprüngliche Idee aus den 1950er Jahren zurück: ein Musikwettbewerb für Staaten, die noch kurz zuvor Krieg gegeneinander führten.

Doch seit Jahren wird der ESC immer politischer, spiegelt innereuropäische Gefühlslagen und Debatten vor einem Millionenpublikum wider. 2021, im Jahr nach dem Brexit, landet Großbritannien auf dem letzten Platz. 2022, im Jahr des russischen Angriffs auf die Ukraine, schließen die Veranstalter Moskau vom Wettbewerb aus. Am Ende gewinnt die Ukraine. 

In den letzten beiden Jahren sorgte die Teilnahme Israels wegen des Gaza-Krieges für viel Unruhe – im schwedischen Malmö gingen 2024 bis zu 12.000 Menschen bei Demos auf die Straße, auch 2025 in Basel gab es Proteste. Ob Israel im nächsten Jahr in Wien dabei sein wird, will die Europäische Rundfunkunion Ende des Jahres entscheiden

Warum ist der ESC eigentlich queer?

Um die vermeintliche politische Neutralität des Wettbewerbs nicht zu gefährden, gilt seit 2025 eine neue Regel: Teilnehmende dürfen auf der Bühne oder bei Pressekonferenzen nur noch die Flagge ihres Landes tragen. Verboten sind damit aber auch: die Flagge der EU, die nichtbinäre Flagge und die Regenbogenflagge

Das hat für einen Aufschrei unter den Fans gesorgt. Der ESC ist in Teilen der queeren Community extrem beliebt und wird seit Jahren von queeren Künstlern geprägt  – wobei Ästhetik und Bildsprache der Darbietungen oft heteronormativ oder schwul-männlich geprägt waren und es auch heute noch größtenteils sind.

Eine lange Camp-Tradition

Bereits 1961 thematisierte der Franzose Jean-Claude Pascal in seinem Song Nous les amoureux schwule Liebe – wenn auch verklausuliert. 1997 schickte Island mit Paul Oscar den ersten offen schwulen Sänger auf die Bühne. Seinen queeren Durchbruch hatte der ESC 1998: Die trans Sängerin Dana International gewann den Wettbewerb für Israel. Neun Jahre später folgte ihr die lesbische Sängerin Marija Šerifovic für Serbien. 2014 landete die österreichische Drag-Künstlerin Conchita Wurst auf dem 1. Platz, 2024 gewann mit Nemo die erste offen nichtbinäre Person den Wettbewerb und 2025 der queere Österreicher JJ.

Die Gründe, warum Queers den ESC lieben, sind vielfältig. Neben den Erfolgen auf der Bühne ist es der „Hang zu Camp, zu Kitsch“, wie die Kulturwissenschaftlerin Christine Lötscher im Interview zu ESC-Fankultur sagt. Sie findet: „Das sind ästhetische Formen, die in der queeren Community oder damals in der schwulen Szene auf ein großes Interesse gestoßen sind.“ Bereits 1986 schickte Norwegen eine Drag-Performance in den Wettbewerb, Island 1997 mit Paul Oscar den ersten offen schwulen Sänger. 2007 belegte die Ukraine mit der glitzernden Verka Serduchka den zweiten Platz und Finnland lieferte 2013 den ersten lesbischen Kuss des Wettbewerbs in Großaufnahme.

Vor allem aber ist der ESC ein öffentlicher Raum, in dem Queerness seit Jahren ein zentraler Bestandteil ist und positiv dargestellt wird. Selbst aus konservativen Ländern kamen und kommen immer wieder Künstler*innen, die ihre Queerness auf großer europäischer Bühne ausdrücken können.

Queer sein ist politisch

In einem Europa, in dem die Rechte queerer Menschen teils dramatisch weit auseinanderklaffen, bleibt der ESC deshalb immens wichtig. Man kann den Versuch der politischen Neutralität überholt finden. Das Flaggenverbot kritisieren, die Musik und die Bühnenperformances belächeln. Aber dass queere Künstler*innen wie Nemo, JJ und Conchita Wurst europaweit eine Bühne bekommen, dass auch in Bulgarien und Rumänien jedes Jahr das Meer an Pride-Flaggen im Publikum zu sehen ist, ist ein schöner Gedanke.

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Autor*innen

Henrik Düker ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Bei Campact arbeitet er als Redakteur, im Blog beschäftigt er sich in seiner Kolumne vor allem mit LGBTQIA*-Themen. Alle Beiträge

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