Alltagsrassismus Feminismus
Friedrich Merz wurde kürzlich gefragt, was er gegen das Erstarken der AfD unternehme. Seine Antwort: „Rückführungen“ – als Lösung für ein Problem mit dem „Stadtbild“. Als er an anderer Stelle gefragt wurde, was er konkret meine, sagte er: „Fragen Sie mal Ihre Töchter.“
Die Botschaft ist zwar unterschwellig, aber eindeutig: In deutschen Städten gebe es, so Merz’ implizite Aussage, zu viele „Schwarzköpfe“. Und dieses Problem müsse man lösen, indem man endlich ordentlich abschiebe. Wer ihm nicht glaube, solle die Töchter fragen – denn diese „Schwarzköpfe“ seien natürlich alle Belästiger und Vergewaltiger.
Dieser Satz enthält alles, was man über das Weltbild eines Politikers wissen muss. Er verrät, wem er Menschlichkeit zugesteht – und wem nicht. Doch welche Töchter meint er hier eigentlich? Natürlich nur weiße. Denn es geht nicht um Sicherheit, sondern ums Weißsein.
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Sind nicht-weiße Frauen keine Töchter?
Wenn Friedrich Merz von schützenswerten Töchtern spricht, meint er nicht Geflüchtete – obwohl auch sie Töchter sind und Töchter haben können. Denn die sollen ja im großen Stil abgeschoben werden. Er meint nicht die Töchter, die täglich Rassismus ausgesetzt sind.
War Marwa El-Sherbini, die 2009 in einem Dresdner Gerichtssaal von einem Neonazi erstochen wurde, keine Tochter? Waren die 10-jährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayşe Yılmaz, die in Mölln am lebendigen Leib verbrannten, keine Töchter? Was ist mit Mercedes Kierpacz, die in Hanau erschossen wurde? War sie keine Tochter? Eine Tochter, deren Urgroßvater in Auschwitz vergast wurde.
Was ist mit den Töchtern, deren Angehörige in Deutschland ermordet wurden? Ist Serpil Temiz Unvar keine Tochter – die Frau, deren Sohn in Hanau ermordet wurde und jetzt mit einer Bildungsinitiative gegen Rassismus kämpft? Was ist mit den Töchtern der Menschen, die der NSU erschoss – jenen Töchtern, die vermutlich seit Jahren schlecht schlafen? Weiße Täter haben ihnen genommen, was Merz zu verteidigen vorgibt: Sicherheit, Vertrauen und die Freiheit, einfach nur Töchter zu sein.
Selektives Väter-Töchter-Bild
Merz erwähnt diese Töchter nie. Er tut, als spreche er über Gewalt, doch in Wahrheit spricht er über Genetik. Für ihn ist die Gewalt weißer Männer keine politische Kategorie, sondern ein bedauerlicher Einzelfall. Das ist kein Zufall, sondern Strategie: Merz betreibt symbolische Politik auf Kosten jener, die er nicht als Teil dieses Landes anerkennt. Er will Macht durch Angst – und Angst braucht ein Gesicht.
Merz beschwört den weißen Vater, der sich um seine weiße Tochter sorgt. Doch was ist mit den anderen Vätern? Was ist mit Mehmet Kubaşık und Enver Şimşek, zwei NSU-Opfern? Süleyman Taşköprü hatte zum Zeitpunkt seiner Ermordung eine dreijährige Tochter. Wird Merz auch sie fragen, was das Problem im Stadtbild sei? Habil Kılıç, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar hatten ebenfalls Töchter. Mehmet Turgut war Kurde aus der Türkei und hatte in Deutschland mehrfach erfolglos Asyl beantragt. Für Merz ein „Problem im Stadtbild“, das beseitigt gehört – und vom NSU beseitigt wurde.
Merz spricht Väter an, und übersieht den Vater des Hanau-Täters, der seit dem Terroranschlag seines Sohnes die Überlebenden und Angehörigen rassistisch beleidigt und belästigt. Er sieht nicht den Kampf der Väter der Ermordeten in Hanau. Er sieht nicht diejenigen, die ihre Kinder verloren haben, weil rassistische Täter sich in einem Land sicher fühlen, das die Namen der Opfer kaum nennt. Auch die Mütter, die wissen, dass die Polizei ihnen weniger glaubt, dass die Medien ihre Kinder dämonisieren, dass Politiker wie Merz sie nicht mitmeinen, wenn sie von „unseren Kindern“ sprechen – auch sie sieht und hört er nicht.
Das eigentliche Stadtbild-Problem
Merz fordert, man müsse „ordentlich abschieben“. In seinen Worten liegt ein autoritärer Gestus, der suggeriert, Menschlichkeit sei nur eine Option – aber kein Prinzip. Er will, dass wir ihm glauben. Doch Glaubwürdigkeit entsteht nicht durch patriarchale Pose, sondern durch Verantwortung. Und Verantwortung heißt: zuhören.
Seit Tagen protestieren Tausende in Deutschland – Töchter, Väter, Söhne, Mütter und alle, die dazwischen und darüber hinaus existieren. Wird Merz ihnen zuhören? Natürlich nicht. Denn Zuhören heißt lernen. Und Lernen heißt, Fehler einsehen, Kritik annehmen, Haltung zeigen, sich verändern. Merz kann das nicht. Doch wer unfähig ist, sich weiterzuentwickeln, sollte kein Land führen.
Wer „unsere Töchter“ sagt und dabei so viele ausschließt, ist nicht fähig, alle Bürger*innen zu vertreten. Wer „ordentlich abschieben“ will, aber über strukturellen Rassismus schweigt, zeigt, dass er Macht sucht, nicht Verantwortung. Friedrich Merz betrachtet Menschenrechte nicht als unteilbar. Er will Ordnung ohne Gerechtigkeit, Kontrolle ohne Einsicht. Das ist nicht Stärke – das ist Schwäche.
Ein Kanzler müsste Brücken bauen. Merz reißt sie ein. Ein Kanzler müsste Wunden heilen. Merz streut Salz hinein. Ein Kanzler müsste verstehen, dass „unsere Töchter“ alle sind – auch die, die er nicht sieht, und die, die er abschieben will.
Genau deshalb ist er für sein Amt nicht nur unfähig, sondern unwürdig. Ihm fehlt die Kompetenz, doch noch mehr fehlt ihm die Haltung. Und das ist das eigentliche Problem mit dem Stadtbild.
