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„Trauzeugen-Affäre“ – und jetzt?

Die Ampel-Koalition sollte den Fall Graichen als Chance begreifen und für die Ministerien vorbildliche Regeln im Umgang mit Interessenkonflikten einführen.

Staatssekretär Patrick Graichen bei einer Bundespressekonferenz im Jahr 2022.
Staatssekretär Patrick Graichen bei einer Bundespressekonferenz im Jahr 2022. Foto: IMAGO / Political-Moments

Die mediale und politische Aufregung war groß: Vetternwirtschaft im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz! Die Schlagzeilen bei BILD und Co. überschlugen sich geradezu angesichts der sogenannten „Trauzeugen-Affäre“ um Staatssekretär Patrick Graichen vor einigen Wochen. Minister Robert Habeck musste im Bundestag zum Rapport antreten. Dass die Wellen derart hoch schlugen, mag mit dem umstrittenen Gebäudeenergiegesetz – umgangssprachlich Heizungsgesetz – zusammenhängen, das sowohl viele Hausbesitzer:innen als auch die Gaslobby auf die Barrikaden bringt. Opposition und politische Gegenkräfte witterten in der Affäre ihre Chance, ein zentrales Projekt der grünen Klimapolitik zu Fall zu bringen.

Wie Gegner der Wärmewende versuchen, den Diskurs zu sabotieren, hörst Du auch in Folge 28 des Campact-Podcasts:

Das Gerede von angeblichen Clan- oder auch Mafia-Strukturen im Klimaministerium, wie es aus Teilen der Union und der AfD zu hören war und von einigen Medien bereitwillig verbreitet wurde, war unlauter und völlig unangemessen. Solche Wortwahl diente vor allem der Stimmungsmache, verhinderte sachliche Kritik und verstellte den Blick auf die Realitäten.

Zugleich war Graichens Verhalten nicht korrekt: Er hätte seinen Interessenkonflikt bei der Besetzung des wichtigen Chefpostens bei der Deutschen Energie-Agentur offenlegen müssen. Dass er das nicht tat, war ein schwerwiegender Fehler, der seinen Minister und dessen Politik beschädigte. Als kurze Zeit später bekannt wurde, dass Graichen einen Förderantrag für den BUND Berlin-Brandenburg abgezeichnet hatte, obwohl seine Schwester dort im Vorstand sitzt, war es nur richtig und konsequent, Graichen zu entlassen.

Lascher Umgang mit Interessenkonflikten

Der Vorgang weist auf ein tiefer liegendes Problem: Der Umgang mit Interessenkonflikten ist insgesamt unzureichend. Konkret: Wie konnte es überhaupt passieren, dass Graichen die Vorlage mit der Förderung für den BUND auf den Tisch gelegt wurde? Dass Graichen Geschwister hat, die in Bereichen tätig sind, die sich zum Teil mit Graichens Verantwortungsbereich überschnitten, war seit 2021 bekannt und zunächst unproblematisch. Denn das Ministerium hatte eine sogenannte Compliance-Brandmauer eingezogen: Um schon den Anschein einer möglichen Bevorteilung der Organisationen der Geschwister auszuschließen, sollte Graichen an keinen Entscheidungen diesbezüglich beteiligt werden. Das ist offensichtlich nicht gelungen, die Brandmauer hat nicht gehalten. Graichen musste gehen.

Der Fall von Udo Philipp, auch Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, zeigt zudem, dass es auch an verbindlichen Vorschriften mangelt, die Interessenkonflikte überhaupt erst sichtbar machen. Anders als in Frankreich ist es in Deutschland für Spitzenpersonal in Ministerien nicht verpflichtend, eine Interessenerklärung abzugeben. Philipp tat dies vor seinem Amtsantritt immerhin freiwillig: Er zeigte seine Beteiligungen an diversen Start-Ups und Fonds an. Er hätte seine Investments auch einfach verschweigen können, ohne damit gegen irgendeine Regel zu verstoßen. Mögliche Interessenkonflikte, die aus seinen Beteiligungen erwachsen können, wären für das Ministerium und erst recht für die Öffentlichkeit völlig im Dunkeln geblieben. Leider muss man sagen: Das ist der Standard heute.

Weitere Beiträge zum Thema Lobbyismus liest Du auf unserer Themenseite.

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Regeln müssen verschärft werden

Bundesminister:innen, Staatssekretär:innen und Abteilungsleiter:innen können natürlich persönliche, familiäre Beziehungen haben, aus denen sich Interessenkonflikte ergeben können. Oder sie besitzen Aktien oder haben einen Kredit aufgenommen, woraus ein Konflikt entstehen kann. Da sich solche Situationen nicht vermeiden lassen, ist es wichtig, damit einen guten Umgang zu finden. Dafür ist Transparenz die notwendige Voraussetzung.

Es ist daher positiv, dass Robert Habeck sich im Bundestag offen für schärfere Regeln bei Interessenkonflikten zeigte und auf Frankreich als Vorbild verwies. Mit strengeren Regeln würde die Bundesregierung endlich auch Empfehlungen des Antikorruptionsgremiums des Europarats umsetzen. Dieses hatte der Bundesregierung bereits 2020 empfohlen, „hochgradige Entscheidungsträger:innen und -träger der Exekutive zu verpflichten, ihre finanziellen Interessen regelmäßig öffentlich zu erklären“ und „die Erklärungen einer angemessenen Überprüfung zu unterziehen.“ Die Große Koalition wollte diesem Rat nicht folgen. Die Ampel-Koalition sollte endlich international aufschließen und zügig einheitliche und schärfere Regeln für ihr Spitzenpersonal in den Ministerien beschließen.

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Autor*innen

Imke Dierßen ist Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitete viele Jahre bei Amnesty International als Referentin und Abteilungsleiterin. Dort hat sie gelernt, wie schwierig es für die Zivilgesellschaft sein kann, sich gegen einflussreiche Akteure aus Politik und Wirtschaft durchzusetzen. Seit 2015 ist sie politische Geschäftsführerin von LobbyControl. Für den Campact-Blog schreibt sie über Lobbyismus und politische Machtungleichgewichte. Alle Beiträge

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