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Struktureller Antisemitismus: „Organische Marktwirtschaft“ und „Parasiten“

Struktureller Antisemitismus – er ist weit verbreitet, aber zu wenig beachtet. Über die Ursprünge im Faschismus, die AfD und den Fall des ehemaligen Degussa-Goldhandel-Geschäftsführers Markus Krall.

Björn Höcke (AfD) beim 12. Bundesparteitag der AFD, vom 10.-11.04.2021 in der Messe Dresden.
Auch die AfD verbreitet immer wieder strukturell-antisemitische Bilder – insbesondere Björn Höcke. Bereits in seinen Schriften unter dem Pseudonym Landolf Ladig trat dieser Antisemitismus zu Tage. Foto: IMAGO / Sylvio Dittrich

Der strukturelle Antisemitismus ist heute „ein Antisemitismus noch ohne Juden“ schreiben Nikolas Lelle und Johanna Balsam in einem Beitrag für die Amadeu Antonio Stiftung. Dies hat natürlich damit zu tun, dass sich nach der Shoa der Antisemitismus oftmals tarnen will. Aber selbst ohne explizit antisemitische Absicht kann man dem Antisemitismus Vorschub leisten, wenn man eine Gedankenwelt wie den strukturellen Antisemitismus „noch ohne Juden“ propagiert. Für Antisemit*innen bietet es sich heute an, nur die Struktur des strukturellen Antisemitismus zu bedienen und Jüd*innen noch nicht zu markieren. Diese Markierung ergibt sich dann wie von selbst aus der internen Logik des strukturellen Antisemitismus und passfähigen antisemitischen Bildern, die zum Teil schon Jahrhunderte alt sind.

Grundlage des strukturellen Antisemitismus ist eine Verschwörungsideologie, die die negativen Auswirkungen des Kapitalismus auf eine Gruppe projiziert. Die Marktwirtschaft wird dabei als organisch gewachsen verstanden, die durch fremde „Parasiten“ gestört wird. Die Nazis sprachen vom „schaffenden Kapital“ der „organischen Wirtschaft“ und vom „raffenden Kapital“ der „jüdischen Parasiten“.

AfD nutzt strukturell-antisemitische Gebilde zur Welterklärung

In der AfD werden diese strukturell-antisemitischen Gebilde zur Welterklärung benutzt. Nicht zufällig, mit der Wortschöpfung „organische Marktwirtschaft“ begann die Überführung von Björn Höcke als die Person hinter dem Pseudonym Landolf Ladig. Der „Globalkapitalismus“ würde durch die „Auszehrung“ zum „Volkstod“ führen, schreiben Höcke und Ladig jeweils wörtlich.

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Höcke belässt es allerdings bei einem strukturellen Antisemitismus. Er kritisierte damals Pegida für die Formulierung „christlich-jüdisches Abendland“. Das Abendland sei für Höcke christlich-germanisch geprägt und „Christentum und Judentum stellen einen Antagonismus dar“. Und unter dem Pseudonym Ladig bewunderte er die staatlicherseits im Nationalsozialismus entstandene „Antiglobalisierungsbewegung“. Dass diese „Antiglobalisierungsbewegung“ staatlicherseits schließlich bewusst zu Schädlingsbekämpfungsmitteln griff, um die „volksfremden“ „Parasiten“ zu vernichten, erwähnt Ladig nicht, er bedauert nur das vorübergehende Ende und verweist auf die noch bestehende Glut und die bevorstehende Revolution, in der das Feuer wieder entfacht werde.

Nun hat der strukturelle Antisemitismus seine Heimat im Faschismus, doch er ist sehr viel weiter verbreitet und wird in seiner Brisanz nicht ausreichend betrachtet.

Struktureller Antisemitismus ist weit verbreitet

Aktuell irritiert mich ein Twitter-Beitrag von Markus Krall. Er verbreitet dort triumphierend ein Gerichtsurteil, nachdem die Herausgeberin des katholischen Magazins kath.ch zu einer Geldstrafe von 4.800 Schweizer Franken auf Bewährung verurteilt wurde, weil der Antisemitismusvorwurf gegen ihn üble Nachrede sei. Es würden nun „zivilrechtliche Schadensersatzansprüche in beträchtlicher Höhe“ folgen. Unter anderem adressiert er hier den Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume.

Der triumphierende Kampfmodus von Markus Krall lässt sich vielleicht daraus erklären, dass er vor einigen Monaten noch gefordert hatte, die „parasitäre Klasse“ zu feuern, stattdessen hatte Degussa Goldhandel Markus Krall „mit sofortiger Wirkung freigestellt“.

Hierzu ein paar Worte.

Relevant ist nie allein, was man sagt, sondern aus welcher Position heraus man etwas sagt. Markus Krall war leitender Geschäftsführer von Degussa Goldhandel.

Die Geschichte von Degussa Goldhandel

Degussa Goldhandel wurde gegründet von August von Finck junior, dem Milliardenerben von August von Finck senior. August von Finck senior war ein Nazi, ein früher Bewunderer Hitlers, der geschäftstüchtig von den Arisierungen mehrerer jüdischer Banken profitierte, die Nachkriegszeit allerdings nicht im Gefängnis verbrachte, sondern im Wohlstand als reichster Deutscher.

August von Finck junior kam vor fünfzehn Jahren auf die Idee, mit Gold zu handeln, zunächst hatte er sich Marken wie „Nibelungengold“ gesichert, aber es gab für ihn eine bessere Wahl.

Das Unternehmen Degussa Goldhandel hatte in den 1990er Jahren begonnen, seine NS-Geschichte kritisch aufarbeiten zu lassen. Das Unternehmen profitierte von Arisierungen, beschäftigte Zwangsarbeiter aus KZs, war involviert im NS-Atomwaffenprogramm, verwertete das Zahngold jüdischer NS-Opfer und war Lieferant von Zyklon B an das Vernichtungslager Auschwitz.

Degussa, die „Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt“ benutzte Blausäure zum Goldscheiden, was erklärt, warum sie eine Tochterfirma wie die „Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“ (Degesch) hatte, deren Parasitenbekämpfung ebenfalls auf Blausäure beruhte.

Dass die Nazis das Parasitenvernichtungsmittel Zyklon B als Vernichtungsmittel wählten, hatte unmittelbar mit der NS-Propaganda zu tun, wie Alexander Bein in seinem aufschlussreichen Artikel „Der jüdische Parasit“ aufführte. „Parasit“ sei nicht nur eine Metapher für Jüd*innen gewesen, die die organische Wirtschaft des Volkskörpers auszehrten:

„Darüber hinaus hat wohl das Bild vom Juden in nicht geringem Maße die Methoden der Judenvernichtung bestimmt. So wie man im Mittelalter in ihnen den Antichrist und Satan erschlug und verbrannte, so war die Methode des Vergasens in den Hitlerschen Mordlagern die logische Konsequenz, nachdem sich die Vorstellung von den Juden als Parasiten und Schmarotzer, Ungeziefer und Bazillen endgültig als herrschende durchgesetzt hatte. Waren die Juden wirklich Parasiten, Bazillen und Ungeziefer, so war nicht nur geboten, sie auszurotten, es lag auch nahe, diese Ausrottung mit den Mitteln durchzuführen, mit denen man Bazillen und Ungeziefer vertilgt: dem Giftgas. Schon in seiner Kampfschrift hatte Hitler vom Giftgas als möglicher Waffe gegen die Juden andeutend gesprochen“ (aus: Alexander Bein: Der jüdische Parasit. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage, 1965)

Alle Beiträge zur AfD und zu Rechtsextremismus liest Du hier:

Rekapitulieren wir kurz mit ein paar Ergänzungen: 2009 schloss der Konzern Degussa Goldhandel die Aufarbeitung seiner NS-Geschichte ab und stellte die Ergebnisse auf seiner Website dar. Degussa Goldhandel heißt nun Evonik.

Der Name Degussa Goldhandel, der auf immer mit der Nazi-Vergangenheit, mit der schweren Schuld der Lieferung des Parasitenvernichtungsmittels Zyklon B an Auschwitz verbunden sein wird, wurde daraufhin von August von Finck junior, dem Milliardenerben des Hitler-Bewunderers und Banken-Arisierers August von Finck senior für ca. 2 Millionen Euro gekauft, um „die damit verbundene Tradition“ (Werbeanzeige von Degussa Goldhandel) von Degussa Goldhandel „fortzuführen“. Auf der Seite der finck’schen Degussa Goldhandel findet sich im Gegensatz zu Evonik kein Wort zur NS-Geschichte der Firma.

Wenige Jahre später wurde Markus Krall leitender Geschäftsführer von Degussa Goldhandel. Krall bedient nicht nur das Kulturmarxismus-Narrativ, welches je nach Kontext als strukturell antisemitisch interpretiert werden könnte. Das scheint der Vorwurf zu sein, um den es beim Gerichtsprozess in der Schweiz ging. Sondern Krall bedient zudem das Parasiten-Narrativ. Und dies als leitender Geschäftsführer von Degussa Goldhandel wohlgemerkt.

Strukturell-antisemitische Tweets vom ehemaligen Geschäftsführer von Degussa Goldhandel?

Ich zitiere hier zwei Twitter-Beiträge von Markus Krall von Ende November 2020.

Zur Außenministerin Annalena Baerbock schreibt Krall am 21.11.2020:

„Es spricht die Vertreterin einer parasitären politischen Klasse, die in ihrem Leben noch nichts produziert hat, was andere Menschen für Geld kaufen wollen würden. Wird Zeit, unsere politische Klasse nicht umzubauen, sondern zu feuern.“

Hier findet sich bereits eine Verbindung von „Parasiten“ mit dem NS-Narrativ von „schaffenden Kapital“ und „raffenden Parasiten“.

Noch deutlicher wird er zwei Tage später am 23.11.2020:

„Der Unterschied zwischen unternehmerischen, also marktwirtschaftlichen und bürokratischen, sozialistischen Eliten ist: Erstere agieren in Symbiose mit der Gesellschaft, letztere parasitär.
Unsere Eliten agieren nicht mehr symbiotisch, sondern parasitär. Was folgt daraus?“

Unternehmerische Symbiose mit der Gesellschaft, die gestört wird durch parasitäre Elemente: Das ist genau das Bild des strukturellen Antisemitismus. Vor allem dann, wenn diese „parasitäre Klasse“ mit dem „Kulturmarxismus“ gleichgesetzt wird, der unter den Nazis noch Kulturbolschewismus hieß, eine „Seuche“, die über „Parasiten“ in den „Volkskörper“ eindrängen und ihn krank machen würden. Und auch dieses Krankheitsbild bedient übrigens Krall: Die einzige Hoffnung sei für ihn, dass der erkrankte Körper Fieber bekäme und sich nach dem („konterrevolutionären“) Prozess der Selbstreinigung („Katharsis“) gegen diese „Parasitenklasse“ immunisiere.

Erschwerend kommt hinzu, dass Krall seine Parasiten-Metapher mit einer Frage abschloss, also dazu aufforderte, dieses Bild von „symbiotischer“ Gesellschaft versus „parasitärer Klasse“ zu Ende zu denken. Hier zeigt sich paradigmatisch das, wovor der ehemalige Leiter von Yad Vashem, Alexander Bein, in seinem Artikel „Der jüdische Parasit“ eindringlich warnte.

Einige Zitate:

  • „Man sollte allen eine doppelte Wurmkur verpassen! Der Wirt (Volk) überlebt und das Gewürm (Elite) stirbt und wird ausgeschissen …“
  • „Unser Land braucht eine Wurmkur.“
  • „Die Parasiten müssen weg.“
  • „Wir brauchen eine Wurmkur. Eine Behandlung gegen diese parasitäre Belagerung.“
  • „Parasit wird unschädlich gemacht.“
  • [„Der Wirt stirbt.“] „Und die Parasiten am Ende auch. Das ist aber das einzig Positive.“
  • „Schwäche, Krankheit, Tod – oder radikale Therapie“
  • „Bürgerkrieg“
  • „Wenn der Tod des Parasiten nur mit der Tot des Wirtes einhergehen kann, wäre das die tragischte Variante!“
  • „ … jeder einzelne der das so sieht sollte sich als pro aktiver Kammerjäger berufen fühlen. Start: Auf der Straße um die ‚Seuche‘ bekannt zu machen… “
  • „Dass der Parasit krepiert, wenn der der Wirt sich mal kräftig schüttelt und schrubbt Die scheinbar komplexesten Zusammenhänge erweisen sich meistens als sehr einfach“
  • „Der Parasit überlebt nicht lange“
  • „Parasiten müssen aus dem Pelz. Schluss mit Sozialer Hängematte für Leistungsverweigerer in der Politik.“
  • „Man muss sie, schon aus hygienischen Erwägungen, los werden.“
    „Abflammen hilft.“

Es gab weitere Vorschläge und auch der ehemalige Leiter für Marketing und Kommunikation von Degussa Goldhandel, Kai Baumgartner, beteiligte sich, in dem er den Twitter-Beitrag von Markus Krall mit dem Hashtag „#Wurmkur“ „retweetet“, d.h. mit einem eigenen Beitrag weiterverbreitet.

Es mag sein, dass Menschen mit fehlenden Geschichtskenntnissen nicht bewusst ist, dass Juden als „Parasiten“ und wie Parasiten ermordet wurden; mit Zyklon B, welches von Degussa Goldhandel geliefert wurde. Wenn man aber als leitender Geschäftsführer von Degussa Goldhandel fragt, was daraus folge, wenn eine „parasitäre Klasse“ neben der „symbiotischen“ Wirtschaft entstanden sei, dann muss man mit dem Vorwurf rechnen, strukturell antisemitische Bilder zu verbreiten. Die Sprecherposition kann nicht außen vor gelassen werden. Und angesichts der von Krall hervorgerufen Lösungsvorschläge im Umgang mit „Parasiten“ wie Wurmkur, töten und abflammen, sollten sich Gerichte zweimal überlegen, wer hier Aggressor und Täter ist und wer geschützt werden muss.

Lassen wir zum Schluss Alexander Bein, dem ehemaligen Leiter von Yad Vashem, mit seinen semantischen Anmerkungen zum Narrativ „Der jüdische Parasit“ zu Wort kommen:

„Nichts ist unvermeidbar im geschichtlichen Geschehen, wenn es rechtzeitig erkannt, und wenn zur rechten Zeit der Wille erweckt wird, es zu verhüten, weil es Unrecht ist. Wir können nicht verhindern, daß Wahnbesessene die Führerschaft anstreben. Wir können aber uns und andere dazu erziehen, daß wir ihrem verbrecherischen Machtstreben nicht erliegen. Eine der Folgerungen sollte sein: Vorsicht im Gebrauch und Aufnehmen der Sprache und der in ihr verkörperten Bilder und Vergleiche.“ (Alexander Bein: „Der jüdische Parasit“. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage, in: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, April 1965)

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Autor*innen

Andreas Kemper recherchiert als freischaffender Soziologe zu Netzwerken der Ungleichheit und analysiert deren Ideologien. Seine kritischen Analysen zu Klassismus/Neoliberalismus (klassismus.de), Rassenbiologie und organisiertem Antifeminismus (diskursatlas.de) führten bereits im Juli 2013 zu seinem Buch „Rechte Euro-Rebellion“ zur AfD als Sammelbecken dieser Strömungen. Es handelte sich hierbei um die mit Abstand erste kritische Buchpublikation zur AfD. Kemper warnte hier nicht nur vor der Entstehung einer rechten Partei, sondern konnte auch als erster die Anschubfinanzierung durch die Finck-Gruppe genau bestimmen. Nicht zuletzt seine profunden Recherchen zu Björn Höcke (alias Landolf Ladig) führten zur Überwachung der AfD durch den Verfassungsschutz. Aktuell ist Kemper Mitherausgeber des 'Dishwasher-Magazins' für Arbeiter*innenkinder und recherchiert zu totalitär-kapitalistischen Privatstadtprojekten. Alle Beiträge

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