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Ich bin keine Gebärmaschine für die Nation

Kinder je Frau: Das ist die Einheit, in der die Reproduktion der Bevölkerung in Staaten häufig gemessen wird. In einem Halbsatz zeigt sich, dass Frauen gesellschaftlich für die Reproduktion der Nation verantwortlich gemacht werden. Dabei ist das Kind meist die Entscheidung von einer Frau und einem Mann – und so sollte auch gesamtgesellschaftlich gerechnet werden!

Ein Kind auf einer Schaukel und zwei älterer Frauen auf einem Spielplatz in Assisi, Italien.
Die italienische Gesellschaft altert: Der Anteil der Älteren überholt den der Kinder. Foto: IMAGO / Frank Brexel

Dem Winter in Deutschland entfliehen – ich habe das Glück, das für eine Weile zu können. Mein Ziel: Italien. Ich nähere mich meinen Reiseländern gerne über Eckdaten. Wie viele Menschen leben dort und wie ist deren Geschichte? Wie ist die Natur beschaffen und was essen die Menschen gerne? Essen: Mit Pizza & Pasta ist das in Italien schnell und zu meiner großen Zufriedenheit geklärt.

Doch dann suche ich nach den Bevölkerungsdaten. Das Ergebnis: „Auch aufgrund der niedrigen Fertilitätsrate (1,25 Kinder je Frau in 2021) hat Italien eine der ältesten Bevölkerungen der Welt: Das Durchschnittsalter der Italiener:innen liegt im Jahr 2022 bei rund 47,3 Jahren.“ Stopp mal: 1,25 Kinder je Frau? Ich dachte immer, es braucht zwei Personen, um Kinder zu bekommen! Nachdem ich weiter zur sogenannten „Fertilitätsrate“ – auch in anderen Ländern – recherchiere, stelle ich fest: Ja, das ist der gängige Ausdruck dafür, ob sich eine Nation „ausreichend“ reproduziert, ob die Bevölkerungszahl also steigt, gleich bleibt, oder sinkt. 

Inken Behrmann schreibt im Blog zu zum Thema Feminismus.

Warum ist die Reproduktion der Bevölkerung ein Job der Frau?

Kinder je Frau: Das kann man auch für eine Kleinigkeit halten. Doch oft drücken sich ja gerade in unhinterfragten Worten allgemeine Annahmen aus. Hier lautet sie: Für das Kinder Bekommen und die Reproduktion der Bevölkerung sind die Frauen zuständig. Ist die Fertilitätsrate zu gering, ist es auch ein „Problem der Frauen“, dass sie nicht mehr Kinder bekommen.

Ähnlich sieht man das in Südkorea, das eine geringsten Kinderzahlen weltweit hat. Dort beträgt die Fertilitätsrate nur noch 0,78 Kinder „pro Frau“. Die Vorschläge zur Verbesserung gehen entsprechend – neben Babygutscheinen für junge Eltern – auch dahin, dass es weniger verpönt sein müsse, Kinder alleine zu erziehen. Keine Frage: Alleinerziehende Frauen sollen weder wirtschaftlich, noch sozial oder kulturell diskriminiert werden. Doch wenn eine Regierung so einen Vorschlag im Rahmen zu geringer Kinderzahlen macht, dann heißt das de facto: Die Frauen sollen die Kinder nicht nur bekommen, sie sollen sie im Zweifelsfall auch noch alleine großziehen. Eine irre Verantwortung und Belastung von Frauen – nur um die Bevölkerungszahl konstant zu halten.

Die Rolle der Männer wird unsichtbar gemacht

Wo sind eigentlich die Männer? In allen anderen Bereichen unserer meist patriarchalen Gesellschaften sind sie fast unmöglich zu umgehen. Nur im Bereich der Reproduktion scheinen sie seltsam abwesend; noch nicht einmal in der Berechnung der Reproduktionsrate kommen sie vor. Dabei wäre genau das ein Leichtes. Man müsste die Zahl nur halbieren, um die Reproduktionsrate pro Person anzugeben – es sollten dann ca. 1,05 Kinder pro Person sein, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Stattdessen aber werden Männer aus allem, was mit dieser Reproduktion zu tun hat, herausgerechnet: Zeugung, Unterstützung in der Schwangerschaft, Kindererziehung, Sorgearbeit für eine Familie. Die Verantwortung für das Kinder Bekommen und Großziehen wird stattdessen allein Frauen zugeschustert. 

Biopolitik: Seit wann kümmert sich der Staat eigentlich um seine Reproduktion?

Doch woher kommt diese Idee eigentlich? Dass Staaten sich überhaupt so viele Gedanken um ihre Reproduktion machen, hat einiges mit der Entwicklung moderner Nationalstaatlichkeit zu tun. Der französische Philosoph Michel Foucault beschreibt in seinen Studien zur „Biopolitik“, wie Staaten seit dem 17. Jahrhundert neue Regierungsformen entwickelten. Sie verstanden ihre Bevölkerung nicht mehr wie im Feudalismus als unbestimmte Masse an Untertanen, die ihren einzelnen Lehnsherren dienten, ansonsten aber selbst für ihr Leben sorgten. Stattdessen erheben Staaten nun den Anspruch, die Menschen in ihren einzelnen Aktivitäten zu leiten, zu disziplinieren und als Gesamtkörper zu entwickeln – also die Bevölkerung als Ganzes und die einzelnen Individuen zu regieren und zu regulieren. Zu dieser staatlichen Regierung gehört einerseits, die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen. Andererseits, das Leben der Bevölkerung „zu verwalten, […] zu entwickeln und zu bewirtschaften“.[1]

Eine Grundlage für eine solche Regierung der Bevölkerung in modernen Staaten ist auch deren Vermessung und Quantifizierung – zum Beispiel durch die Bevölkerungszahl oder die oben gefundene „Fertilitätsrate“. Dass es in dieser Vermessung und Regierung jedoch geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, und Frauen* – gerade im Patriarchat – anders regiert werden, als Männer, stand jedoch nicht so im Fokus. 

Trennung von Produktion und Reproduktion

Fragen wir also eine Frau: Die Wissenschaftlerin Silvia Federici ergänzt diese Analysen um eine feministische Perspektive. Im Zuge des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus wurde ihr zufolge die Gesellschaft in die Bereiche der Produktion und der Reproduktion getrennt. Männer wurden für die produktive Sphäre der Lohnarbeit zuständig, also dafür, die Familie finanziell zu versorgen. Frauen wurde die reproduktive Sphäre zugeordnet, also die Haus- und Sorgearbeit. Sie waren dafür verantwortlich, alles innerhalb der Familie zu organisieren und sich um die Familie zu kümmern – in Form des Kinder Bekommens, Kindererziehens, aber auch des Kochens, Putzens und emotionaler Arbeit. Kurzum: Frauen wurden für alles verantwortlich, was privat zur Sorge um das Leben gehört.

Federici argumentiert sogar, dass die reproduktive Sphäre – die der Frau – vor allem darauf ausgelegt wurde, Kinder und damit neue Arbeitskräfte zu gebären. Voilà: So ist es die Verantwortlichkeit der Frau, die Nation immer weiter mit neuen Bürger*innen und Arbeitskräften zu versorgen. Diese Verantwortungszuschreibung ist nicht nur ein patriarchales, sondern auch ein kapitalistisches Muster.

„Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine“ 

Seit dem 17. Jahrhundert hat sich nun einiges verändert. Insbesondere die Einführung und Legalisierung von Verhütungsmitteln und die stärkere Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen sowie der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ermöglichen es Frauen heute, freier darüber zu entscheiden, ob sie Kinder bekommen wollen. Anderes hingegen ist frustrierend stabil: Die ungleiche Aufteilung von Lohn- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern, die unterschiedlichen Rollenerwartungen und – wie in Reiseführern beiläufig geschrieben – auch die Zuständigkeit von Frauen dafür, Kinder zu bekommen und zu wollen. Im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen erlaubt es sich der Staat sogar noch immer, in die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen hinein zu regieren.

Die politische Rechte versucht nun, die errungenen Freiheiten und Erfolge immer wieder anzugreifen. So schlug Erik Ahrens, Mitarbeiter des AfD-Spitzenkandidaten für die EU-Wahl Maximilian Krah auf dem Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) vor, dass, parallel zur Musterung von Männern für die Bundeswehr, „junge Frauen gemustert und bei Eignung zur Abgabe von Eizellen verpflichtet [werden könnten], um die Demographie zu stabilisieren“. Inzwischen distanzierte er sich von seinem Tweet, löschte ihn aber nicht. 

Klar, die AfD ist rechtsextrem und erinnert hier eher an Science Fiction à la „The Handmaid’s Tale“ als an die Realität. Doch mit ihrem Nationalismus schließen die Rechten an verbreitetes Gedankengut an, das die Verantwortung für die Reproduktion der Nation Frauen zuschiebt und in letzter Konsequenz auch über ihren Körper entscheiden will. Und das zeigt sich auch in so kleinen Details wie den „Kindern pro Frau“. Doch für mich ist klar: Mein Körper ist keine Gebärmaschine – und ich will auch von dem Staat, in dem ich lebe, nicht so gesehen werden. Da halte ich es mit der feministischen Bewegung: „Ob Kinder oder keine, entscheide ich alleine!“


Fußnote

[1] Thomas Lemke (2007): Gouvernementalität und Biopolitik, S. 80.

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Autor*innen

Inken Behrmann ist für Klimaschutz und Feminismus unterwegs. Nachdem sie als Campaignerin bei Campact und in der Klimabewegung Kampagnen für Klimaschutz organisiert hat, promoviert sie aktuell an der Universität Bremen. Für den Campact-Blog schreibt sie Texte gegen das Patriarchat. Alle Beiträge

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